Der blutrote Kolibri
musste: Da kniete sie, vollkommen aufgelöst vor einer Bahre auf den Stufen des Inka-Palastes, umringt von schweigenden Untertanen. Und auf der Bahre ruhte der kalte Körper ihres Vaters.
So hatte Tinku Chaki hier gelegen, angegafft und still betrauert von mehr als viertausend Menschen. Auch ihn hatte man vor der Stadt gefunden, hinterrücks von einem Krokodilreiter gemeuchelt.
Perlenhaut. Wie hatte sie sich bloà so einen bescheuerten Namen für diesen Mörder ausdenken können! Sie hegte nicht den geringsten Zweifel, dass nur er Milac getötet haben konnte. Er trieb sich wahrscheinlich öfter an der Lagune herum. Welch ein Wunder, dass sie selbst diesem Feigling entkommen konnte! Brennender Hass brodelte in ihr.
Wäre Animaya in diesem Augenblick ihrem Gefühl gefolgt, wie Wisya es von ihr forderte, hätte sie schreiend vor Wut den Platz verlassen und den Wald nach diesem Ungetüm durchforstet. Sie nahm sich fest vor, alles dafür zu tun, dass der Krokodilreiter seine gerechte Strafe bekam.
»Milac wird morgen Früh auf dem Friedhof der Generäle begraben werden«, flüsterte Kapnu Singa mit Trauer in der Stimme. »Wir alle werden ihm die Ehre erweisen, die er sich durch seine Taten verdient hat. Und den Krokodilreitern stehen harte Tage bevor! Wer einen Menschen feige und aus groÃer Entfernung durch einen Speerwurf ermordet, soll nicht ungestraft davonkommen!«
»Dem ist nichts hinzuzufügen!«, zischte Animaya bitter.
Wisya warf ihr einen verwirrten Blick zu. Auch Vinoc drehte den Kopf und runzelte missbilligend die Stirn. Das ist der Unterschied zwischen uns, dachte Animaya. Die beiden hingen nur Tagträumen nach. Redeten von Ungerechtigkeiten und Revolution. Dabei war der gröÃte Feind nicht in den eigenen Reihen zu suchen, sondern im Wald.
Animaya holte tief Luft und atmete dann langsam wieder aus. Sie musste sich jetzt unbedingt beruhigen, sonst würde sie den beiden Alten noch in aller Ãffentlichkeit etwas Schlimmes an den Kopf werfen. Einatmen, ausatmen. Und noch mal tief Luft holen.
Nach einer Weile verlangsamte sich ihr Herzschlag ein wenig und sie konnte wieder klarer denken. Die Männer waren letzte Nacht zusammen zur Lagune gegangen, so viel wusste sie. Aber was war dann geschehen? Wenn der Krokodilreiter Milac kurz darauf getötet hatte, musste Kapnu Singa dabei gewesen sein. Vielleicht hatte er den Verlust billigend in Kauf genommen. Oder Perlenhaut und Milac sogar aufeinandergehetzt ⦠Durfte sie den Krokodilreiter verachten, wenn er sich womöglich nur verteidigt hatte?
Sie würde nie die Wahrheit erfahren, das war ihr klar, dennoch spürte sie, wie ihr Hass auf den Krokodilreiter ein wenig abklang.
Stumm marschierten die Bewohner der Unterstadt an der Bahre vorbei. Als Animaya vor Milac stand, musste sie die Zähne fest zusammenbeiÃen. Die Gesichtszüge des alten Generals wirkten nicht wie die eines Kriegers, den der Tod überrascht hatte. Trotz der grässlichen Wunde an Hals und Brustkorb waren seine Lippen zu einem kaum sichtbaren Schmunzeln verzogen, nicht hochmütig, sondern stolz und voller Geheimnisse. Animaya ging schnell in die Hocke und berührte ganz leicht Milacs Hand.
»Danke!«, flüsterte sie und dachte daran, wie er den Stein in den Kanal gekickt hatte, um sie zu retten.
In Gedanken leistete sie einen Schwur: Ich finde deinen Mörder und sorge für Vergeltung. Ich werde meine Kraft und Fähigkeiten einsetzen, um dich zu rächen. Und meinen Vater!
Als sie Achachi pfeifen hörte, stand Animaya hastig auf. Kapnu Singa war nur wenige Schritte von ihr entfernt stehen geblieben und sezierte sie förmlich mit seinem scharfen Blick.
Animaya durchfuhr es heià und kalt, als sie spürte, wie der oberste General mit unsichtbaren Krallen in ihr Herz eindrang, um es nach ihrer aufrichtigen Liebe zu Tupac zu durchwühlen. Verzweifelt versuchte sie, ihre negativen Gefühle zu verdrängen, aber wie die Dschungelpflanzen den Palast, hatten sie längst alles Schöne überwuchert. Animayas Brust krampfte sich zusammen, wollte den Eindringling loswerden. Vor Panik brach ihr der Schweià aus.
Doch urplötzlich und ohne dass sie selbst etwas dafür ge tan hatte, erschien der Inka wie ein strahlender Gott vor ihrem inneren Auge. Jede Pore ihres Körpers schüttete mit einem Mal Liebe zu ihm aus. Animaya zerfloss beinahe vor Glück, Tupac dienen zu
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