Der blutrote Kolibri
weder die Hindernisse noch die Ver steckmöglichkeiten. Vorsichtig ging sie ein paar Schritte weiter.
Das Heulen war nun einem herzergreifenden Wimmern gewichen. Pillpa biss sich auf die Unterlippe. Kapnu Singas Opfer war eindeutig eine Frau.
»Gut«, schnarrte er. »Ich werde nicht noch einmal fragen. Siehst du diesen Kasten? Ich nehme an, das bekommst du auch ohne Augen hin, hmm?« Er lachte dreckig. »Da drin ist eine Lumenpeitsche. Grell und heià wie die Sonne. Du kennst doch diese strahlende Kugel am Himmel, die ihr Albinas so liebt â¦Â«
Pillpa zuckte zusammen. Alle Schnipsel setzten sich in ihrem Kopf zu einem Gesamtbild zusammen. Hierher hatte Kapnu Singa die Albina gebracht, die er hinter seinem Lamagua in die Stadt geschleift hatte. Hier, tief unter dem Tempel, lagerte das gröÃte Geheimnis Paititis. Ein falscher Schritt, ein Laut zu viel, und Pillpas Leben war kein Maiskorn mehr wert.
Das Wesen jaulte auf, als der Deckel eines Kastens quietschte. Zwei, drei Sekunden lang herrschte unheimliche Stille. Dann durchschnitt ein Peitschenknall die Luft. Gleich darauf brüllte die Albina aus tiefster Seele. Pillpa presste beide Hände auf die Ohren, aber es half nichts. Dieser entsetzliche Schrei war sicher auch noch im Feindesgebiet zu hören.
»Zwei Katastrophen hat uns die Goldene Maske prophezeit«, sagte Kapnu Singa mit eisiger Stimme, als der Schrei in ein Schluchzen überging. »Die erste ist eingetreten und wir werden darauf reagieren. Die zweite aber ist schwieriger zu verhindern. Tupac wird vom rechtmäÃigen Inka getötet werden, weissagt die Maske. Es gibt jedoch einen Weg, diesen Mann vorher zu erkennen. Nur die Albinas wissen wie.«
Die Peitsche sauste abermals durch die Luft.
Pillpa hielt sich nur kurz die Ohren zu, denn sie wollte die Antwort auf keinen Fall verpassen.
»Die Göttertiere!«, hörte sie die Albina mit heiser geschriener Stimme krächzen. »Steckst du dieses Ding auch bestimmt weg, wenn ich dir alles sage?«
Pillpa entging nicht, wie viel Verzweiflung in diesen Worten steckte. Dass die Gefangene das Geheimnis der Albinas nur preisgab, weil sie die Folterqualen nicht länger ertragen konnte.
»Du hast mein Wort!«, erwiderte Kapnu Singa.
»Eines eurer Göttertiere wird ein Fohlen mit zwei Köpfen gebären. Dieses heilige Tier ist fähig â¦Â« Sie schluckte, um wei tersprechen zu können. »â¦Â den wahren Herrscher zu erkennen.«
»Tupac ist der wahre Herrscher. Er hatte alle Kinder seines Bruders töten lassen.«
»Alle bis auf eins«, röchelte die Albina. »Eins blieb am Leben.«
Kapnu Singa knirschte mit den Zähnen. »Weià dieses Kind von seinem Schicksal?«
»Nein, niemand ahnt es.«
»Wenn ich das Fohlen töte â¦Â«
»Bleibt alles beim Alten. Tupac regiert weiter.« Die Albina wurde von einem fürchterlichen Hustenanfall geschüttelt. »Wenn aber ⦠wenn der wahre Inka von seiner Herkunft erfährt, wird er Tupac töten. Dann sitzt ein gerechter Inka auf dem Thron, wie ihn noch keiner gesehen â¦Â«
Weiter kam die Albina nicht. Die Lumenpeitsche sauste durch die Luft. Wieder und wieder schlug Kapnu Singa damit auf sein Opfer ein. Entsetzliche Laute zerrissen die Nacht.
Pillpa schlich sich mit zitternden Knien davon. Sie empfand jeden ihrer Schritte wie einen Verrat an dem Wesen, dem sie nicht beistehen konnte. Je mehr sie sich ihrem Schlafraum näherte, desto leiser wurden die Schreie. Erst als sie ihr Lager erreicht und sich zugedeckt hatte, bemerkte sie die Tränen, die ihr die Wangen herunterliefen. Sie musste einen Weg finden, ihr Wissen nach drauÃen zu schmuggeln. Schon im Halbschlaf fiel ihr der rote Kolibri wieder ein. Dreimal kurz, einmal lang.
Animaya rannte durch die menschenleeren Gassen. Ihre nackten Sohlen machten nicht das leiseste Geräusch.
Der Mond war genauso silbrig wie in der vergangenen Nacht, aber nicht mehr ganz so rund. Mama Killa verlor einen Teil ihrer Kraft, würde sie aber bald zurückgewinnen. Wenigstens auf den Lauf des Mondes schien man sich noch verlassen zu können.
Mit Anbruch der Dunkelheit war das Brüllen der Affen verstummt. Nun nahmen die Grillen und Zikaden mit ihrem Zirpen die freien Plätze im Konzertsaal ein. Und Calicos Schnarchen. Animaya kannte Männer aus der Nachbarschaft, die wegen leiserer Geräusche bestraft worden
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