Der blutrote Kolibri
waren â¦
Da war schon die Mauer des Palasts, die Brücke über den Abwasserfluss, wo sie sich vergangene Nacht versteckt hatte. Am Ende der Gasse blieb Animaya kurz stehen und warf den Kopf herum. War da nicht eben ein Geräusch gewesen? Ein erschöpftes Röcheln aus einer uralten Kehle? Sie lauschte atemlos. In Hauseingängen und hinter Mauervorsprüngen gab es genug Schatten, in denen sich ein Verfolger verstecken konnte. Doch Animaya hörte nichts, auÃer dem Rauschen ihres eigenen Blutes in den Adern.
Geh weiter!, befahl sie sich. Achachi war schon vorausgeflogen und nicht mehr zu sehen. Animaya versuchte sich den Weg wieder ins Gedächtnis zu rufen, bog zweimal falsch ab, kam schlieÃlich aber doch bei der Mondquelle an. Niemand war da. Oder vielmehr, niemand war zu sehen.
Sie ging zu dem Bassin, formte mit den Händen einen Trichter und trank gierig. Selten hatte ihr Wasser so gut geschmeckt wie nach diesem Lauf.
»Da bist du ⦠Komm zu mir!« Wisya stand neben dem Becken und beobachtete ihre junge Nachbarin. Ihr Blick war liebevoll, aber auch voller Sorge.
Als Animaya zu ihr trat, ging die Yatiri schnell in die Hocke und zog mit einem angesengten Stock einen Kreis um sie beide. Dann verstreute sie zusätzlich einige Kräuter auf den Strich.
»Heute sind wir allein, denn was ich zu sagen habe, ist nicht für alle Ohren bestimmt. Du sollst Antworten auf die Fragen bekommen, die dir auf dem Herzen liegen â wenn ich die Antworten kenne.«
Wisya setzte sich so, dass ihr Gesicht silbern im Mondschein glänzte. Animaya nahm schweigend neben ihr Platz, ganz von der Feierlichkeit des Moments durchdrungen.
»Du willst wissen, wie ich eine Yatiri werden konnte, obwohl ich eine Frau bin?«
Animaya nickte, sie brannte vor Neugier.
»Durch eine lange Kette von Zufällen. Oder war all das mein Schicksal? Entscheide selbst!«
Wisya lehnte sich mit der Schulter an das Wasserbassin. Während sie erzählte, verlor sich ihr Blick in der Unendlichkeit des Nachthimmels. Als würde sie in den leuchtenden Punkten dort oben lauter Bilder ihrer eigenen Geschichte sehen kön nen.
»Einst erwartete in der Oberstadt die Frau eines Maiskämmerers ihr erstes Kind. Sie war glücklich, denn sie hatte einen gütigen Mann, den sie liebte. Jeden Tag rieb sie ihren wachsenden Bauch mit kostbarem Ãl ein und sprach mit ihrem ungeborenen Kind. Ein Mädchen sollte es werden, so war ihr Wunsch.
Als die Zeit der Niederkunft gekommen war, passierte etwas Seltsames: Eine sanfte Brise trieb ein kleines Blatt in ihre Kammer. Doch anders als die Blätter des Waldes war es nicht grün, sondern weiÃ. Weià wie Lamaguamilch.
Die Frau verspürte unendliche Angst um das Kind in ihrem Bauch, denn sie hielt das Blatt für ein Zeichen Intis. Und als die Geburtshelferinnen in ihr Haus kamen, um ihr beizustehen, jagte sie die Frauen mit dem Knüppel fort.
In Windeseile raffte sie ein paar ihrer Tücher und Decken zusammen, band alles zu einem Bündel und schlich sich unter dem Vorwand, frischen Fisch für die Göttertiere fangen zu wollen, an den Wachen vorbei in den Wald. Sie rannte und rannte durch den Dschungel, ohne auf ihren Zustand zu achten.
Ihr Mann leitete den Suchtrupp an, der den Wald bis zur Aufstehsperre durchkämmte. Erfolglos. Als sich das Tor zur Nacht schloss, musste er befürchten, dass er seine Frau nie wiedersehen würde. Denn es war Vollmond, die Nacht der Albinas.
Bis zum Morgengrauen wälzte sich der Mann auf seinem Lager, gequält von entsetzlichen Bildern, was seiner Frau angetan werden könnte. Dann begannen die Albinas zu heulen, und der Mann wusste, er würde die Liebe seines Lebens verlieren.
Kaum dass die Papageien ihre Runde gedreht hatten, tauchten zwei Wachen vor seinem Hauseingang auf. Gegen eine Zu satzration Mais hatten sie dem Kämmerer schon öfter einen kleinen Gefallen getan.
Ãber Umwege eskortierten sie den Mann zur Mauer. Wenige Mannslängen vor dem Tor lag seine geliebte Frau im Gebüsch, bleich und still. Ihr Bauch war flach und eine Blutspur führte von ihrem Körper weg.«
Wisya holte tief Luft. Animaya fand keinerlei Regung in ihrem Gesicht.
»Der Mann schickte die Wachen fort, kniete nieder und bettete ihren Kopf in seinen Schoss. Er beschwor sie weiterzuleben, aber ihre Augen begannen bereits stumpf zu werden. Er betete zu Inti, beschimpfte ihn, bot
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