Der blutrote Kolibri
Imelda wieder ins Gedächtnis. Vielleicht war die Unternehmung, die sie hier ins Rollen gebracht hatte, doch ein bisschen zu kühn. Andererseits: Gelohnt hatte sich das alles schon jetzt.
»Etwa zehn Jahre lang habe ich Tupacs Vorgänger treu und so ergeben gedient, wie es für einen Mann nur möglich ist. Doch obwohl der Inka jung und kerngesund war, brachte man uns eines Morgens die Nachricht von seinem Tod. Es war ein Schock für jeden Krieger, auch für die anderen Einwohner Paititis. Unter Manqus Herrschaft waren einige alte Gesetze abgeschafft worden. Neue sollten die Verteilung der Nahrungs mittel auf die Kasten gerechter machen. Offenbar dachte er auch über die Freilassung einiger Gefangener aus den Maisminen nach.« Vinoc seufzte. »Manqu hatte wohl sogar die Goldene Maske darüber befragt. Nun, er kam nicht mehr dazu zu verkünden, was sie ihm prophezeit hatte. Am nächsten Tag lag er tot auf seinem Bett â ich habe ihn mit eigenen Augen gesehen. Eigentlich wäre nun Manqus Sohn an der Reihe gewesen, aber seine Hauptfrau war mit dem Baby verschwunden. Sosehr wir Generäle auch den Palast auf den Kopf stellten, die beiden blieben unauffindbar. Und die Kinder, die Manqu in seinem Harem gezeugt hatte, wurden getötet.«
»Lass mich raten«, sagte Animaya auÃer sich. »Die Krokodile im Knochenfluss schmatzten sehr laut an diesem Vormittag?«
Vinoc zuckte mit den Schultern. »Lange hielt sich die Legende, dass seiner Frau mit dem Sohn die Flucht gelungen sei. Aber dafür gibt es keinen Beweis, nur Hoffnung. Die Wahrheit aber ist, dass sein nichtsnutziger Bruder Tupac, den Manqu zeitlebens wegen seiner Dummheit und seiner Grausamkeit verachtet hatte, augenblicklich eine Handvoll Generäle um sich scharte und den Thron kurzerhand für sich in Anspruch nahm. Zwei von uns protestierten.« Vinoc richtete seine Augen zum Himmel. »Kapnu Singa schlug ihnen in unserem Beisein die Köpfe ab. Wir mussten neben den Toten stehen bleiben, bis Anaq die Schädel bis auf den blanken Knochen abgenagt hatte. Da wurde mir bewusst, dass ich in so einem Reich nicht leben konnte. Noch am selben Tag traten die alten Gesetze wieder in Kraft und wurden härter als jemals zuvor überwacht.
Tupac gab eine Fangquote aus, die besagte, wie viele Ungehorsame jeder General aufzuspüren und in die Maisminen zu bringen hatte. Besonders das Viertel der Adeligen wurde gesäubert. Jeder, der unter Verdacht stand, gegen den Inka zu sein, wurde umgesiedelt.«
Animaya stutzte. »Du meinst die Opferung der Adelsprivilegien zum Wohle der Allgemeinheit? Die sind doch alle freiwillig â¦Â«
Vinoc lachte bitter. »Ja, so wird es gelehrt. Unsere ganze Geschichte ist nichts als ein Haufen Lamaguakot!« Er seufzte tief. »Ein, zwei Jahre lang biss ich die Zähne zusammen und tat, was Tupac verlangte. Es riss mir fast das Herz aus der Brust, wenn ich wieder Unschuldige abtransportieren lieÃ. Hinter seinem Rücken aber verteilte ich Mais an die Ãrmsten. Der Kämmerer, der auf so dramatische Weise seine junge Frau verloren hatte, unterstützte mich dabei.«
»Wisyas Vater?«, rief Animaya überrascht. Die düsteren Bilder, die Vinoc mit seinen Sätzen malte, hatten sie äuÃerst traurig gestimmt. Jetzt war sie froh, sich an einen Menschen erinnern zu können, mit dem sie Hoffnung verband.
Vinoc lächelte. »Ja, so haben wir uns kennengelernt. Leider zu spät. Einer der Spitzel verriet mich und Kapnu Singa flüsterte dem Inka eine besonders perfide List ein. Um meine Treue zu testen, sollte ich meine alten Eltern wegen Ungehorsams festnehmen und deportieren. Ich weigerte mich â also wurde ich selbst mit der nächsten Karawane verschleppt. Ohne Umweg zu den Maisminen.«
Animaya schüttelte fassungslos den Kopf. »Es gibt die Mais minen also wirklich. Stimmt es, dass dort auch Spinnenmenschen als Sklaven arbeiten?«
Statt einer Antwort, hielt Vinoc die Hände in Animayas Richtung. Der Rest seiner Gestalt hatte sich vollkommen verändert, der kleine Finger jedoch fehlte noch immer.
»Das hier wird mich für immer an einen Spinnenmann erinnern.«
Animaya verzog den Mund. Sie kannte die Gerüchte. »Sie haben dich gefoltert, ich weiÃ.«
Vinoc lachte traurig und jagte sein Lamagua mit einem kräftigen Tritt einen Abhang hinauf. Eine Horde Affen brüllte erschrocken auf und rettete
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