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Der blutrote Kolibri

Der blutrote Kolibri

Titel: Der blutrote Kolibri Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Thilo P. Lassak
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sich auf die umliegenden Bäume.
    Â»Die Spinnenmenschen sind ein friedliebendes Volk, das schon ein paar Tausend Jahre länger hier in der Gegend lebt als wir. Irgendwann kam ein Inka mit seinem Gefolge und baute mitten in ihr Territorium eine Stadt aus Stein. Seine Generäle versuchten die für ihre Begriffe primitiven Menschen zu unterwerfen und als billige Arbeitskräfte einzusetzen. Ein Plan, der den Spinnenmenschen nicht sonderlich gefiel.«
    Trotz des ernsten Themas konnte sich Animaya ein Lächeln nicht verkneifen.
    Â»Es war der Anfang eines ewigen Streits. Oft blutig, wie in den Drei Spinnenkriegen. Niemals hat es seitdem Frieden gegeben. Rache rief neue Rache hervor, eine ewige Spirale. So war das eigentlich harmlose Volk gezwungen aufzurüsten, schuf neue Waffen und zog sich schließlich komplett in die Gipfel der Bäume zurück. Dort lauern sie und lassen ihre klebrigen Seile hinuntersausen, wenn einer von uns an ihnen vorbeireitet.«
    Unweigerlich legte Animaya den Kopf in den Nacken. Die Spinnenmenschen hielten sich nicht gerne an Grenzlinien. Aber dort oben schien alles ruhig zu sein.
    Â»Gib dir keine Mühe, du bemerkst sie erst, wenn du schon einen Strick um den Hals hast.«
    Â»Sehr beruhigend! – Du wolltest mir von deinem Finger erzählen …«
    Vinoc wischte sich den Schweiß von der Stirn. Die Luft im Dschungel war zum Schneiden. Obwohl sie sich selbst kaum bewegten, war Vinocs Haar nass geschwitzt. Auch Animaya fühlte sich wie nach einem Bad in der Lagune. Das Kleid klebte ihr am Körper.
    Â»Drei Ebenen unter der Erde erntete ich im Stockfinstern Mais. Dahin kommen nur die schwierigsten Häftlinge, die Unbeugsamen. Du verlierst jeglichen Lebensrhythmus, wenn du kein Licht siehst. Du legst dich hin, sie wecken dich – wie lange hast du geschlafen? Keine Ahnung. Jeder da unten hat sein eigenes System, die Zeit in Einheiten zu unterteilen. Manche zählen die Mahlzeiten, aber darauf kannst du dich nicht verlassen. Andere achten auf die Stimmen der Wächter: wer kommt, wer geht. Für sie scheint doch ein geregeltes Leben zu gelten, nimmt man an. Aber es stimmt alles nicht. Sie bringen dich extra durcheinander. Tauchen auf, gehen wieder. Füttern dich zehnmal am Tag, damit du denkst, eine Woche ist vergangen. Dann wieder gibt ’ s ewig nichts und du frisst das Hemd deines Nachbarn.«
    Vinoc kam näher an Animaya herangetrabt, warf einen Blick auf den Stein um ihren Hals und veränderte leicht die Richtung seines Lamaguas.
    Â»Ich spürte, wie ich langsam verrückt wurde. Das bezwecken sie, dann bist du der willigste Arbeiter. Auch wenn mein innerer Kalender sicher um viele Wochen von der Wirklichkeit abwich, war mir doch klar, dass nicht mehr viel Zeit zur Flucht blieb.« Er deutete auf seine Augen. »Obwohl ohnehin alles um mich herum schwarz war, merkte ich, dass die Kraft meiner Augen zusehends schwand. Als würden sie austrocknen, verstehst du?
    In einer Pause, die vielleicht die Nacht war, begann der Mann neben mir zu flüstern. Wir unterhielten uns über das beschissene Leben in der Tiefe und unsere Sehnsucht nach dem Wald. Nach jedem Ernteeinsatz suchten wir die Nähe des anderen, fassten mehr und mehr Vertrauen zueinander. Und dann? Was machst du, wenn du nichts mehr zu verlieren hast? Unsere Tage waren gezählt, das wussten wir beide. Es gab nur eine Chance rauszukommen. Mora, so hieß mein Leidensgenosse, hatte belauscht, dass Verletzte an die Oberfläche geholt und dort verbunden wurden. Arbeitskräfte in den Minen sind zu kostbar, um sie einfach so verrecken zu lassen. Das ganze Volk ist von ihnen abhängig. Wir brachen einen Streit vom Zaun, schubsten uns durch die Dunkelheit. Brüllten unablässig, als hätten wir große Schmerzen. Aber eine Verletzung fehlte noch. Wir verabredeten, jeder einen Finger zu opfern. Wie abgemacht, nahm ich seinen kleinen Finger in den Mund und biss ihn ab.«
    Animaya musste würgen. Sie konnte sich die Not kaum ausmalen, die Menschen zu so einer Tat verleitete.
    Â»Bevor Mora auch mir den Finger abbeißen konnte, stürmten die Wachleute in den Stollen und schlugen ihn mit einer Laterne nieder. Ich sah Mora, meinen besten Freund, zum ersten Mal: Er war ein Spinnenmensch!«
    Vinoc schüttelte den Kopf, als würde er sich noch heute über seine Dummheit wundern.
    Â»Im Dunkeln war es nicht zu merken. Der Mann, dem ich am

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