Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der blutrote Kolibri

Der blutrote Kolibri

Titel: Der blutrote Kolibri Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Thilo P. Lassak
Vom Netzwerk:
den Wunsch ihres Vaters. Frei sein wie ein Kolibri! Ein Zustand, in dem Mauern nur schützten, nicht Wege versperrten. In dem Gesetze die Freiheit regelten und nicht beschnitten. Wo die Menschen nicht wie Bäume behauen wurden, bis nur noch grobe Klötze übrig waren, einer wie der andere. Dafür wollte sie von jetzt an kämpfen, für den Traum ihres Vaters!
    Als ihr Lamagua durch das Unterholz auf eine Lichtung brach, konnte Animaya nicht anders. Sie schloss die Augen, riss die Arme in die Luft und brüllte so laut, dass ihre Lunge beinahe platzte: »Jaaaaaaaaaaaa!«
    Da das Lamagua nicht mehr die führende Hand an seiner Mähne spürte, blieb es stehen.
    Â»Jaaaaaaaaa!«, brüllte Animaya noch einmal.
    Erst als sie hinter sich ein anhaltendes Lachen vernahm, senkte Animaya die Arme wieder. Sie wandte den Kopf und erschrak zutiefst.
    Auf dem anderen Lamagua thronte nicht mehr der alte, graue Vinoc, sondern ein Mann um die vierzig mit schwarzem dichtem Haar, edlen Gesichtszügen und stolzen Augen. Vom Hals bis zum Knöchel war er in einen eng anliegenden Anzug aus brauner Lamawolle gekleidet. Über der Brust trug er zusätzlich einen leichten Panzer aus silbernen Schuppen, die bei jedem Lacher surrten wie die Flügel eines Kolibris. Am Gürtel hing Vinocs Obsidianschwert.
    Sofort machte ihr Tier kehrt und ging in Abwehrstellung.
    Â»Wer bist du? Was hast du mit meinem Begleiter gemacht?«
    Aus dem Augenwinkel heraus suchte Animaya im Gebüsch nach den Spuren eines Kampfes. Aber Vinoc – oder Teile von ihm – waren nicht auszumachen.
    Der Mann lachte wieder, diesmal noch schallender. Jetzt erkannte Animaya auch die goldenen Pflöcke in seinen Ohrläppchen. Ein General! Sie waren aufgeflogen!
    Â»Kannst du nichts anderes, als dich über mich lustig machen?«, schleuderte Animaya ihm voller Abscheu entgegen. Jetzt war sowieso schon alles zu spät.
    Tatsächlich hörte der Mann auf zu grinsen. »Wisya ist nicht mehr bei uns«, erwiderte er mit fester Stimme. »Also siehst du mich so, wie ich wirklich bin.«
    Â»Vinoc?«
    Der General nickte. »Meine Frau hat nicht nur den Blick der anderen auf sich selbst, sondern auch auf mich verschleiert. Also sahen alle nur den armen, verwirrten alten Bauern in mir.« Seine Augen funkelten verschmitzt. »Wisya ist eine junge Frau, wie sie dir gezeigt hat. Was sollte sie mit einem Tattergreis als Ehemann?«
    Vinoc drückte seinem Lamagua die Fersen in die Seite. Gehorsam trabte das Tier weiter.
    Animaya wendete Kapka und folgte dem General mit offenem Mund.
    Â»Ich wette, auch dahinter verbirgt sich eine Geschichte …?«
    Vinoc antwortete nicht gleich. Er brauchte seine volle Konzentration, um seinen Lamaguahengst heil in einen Sumpf zu lenken.
    Â»Verwischt unseren Geruch«, erklärte er lapidar. »Man kann nie wissen …«
    Animaya verstand die Aufforderung und zog an der Mähne, bis Kapka seine Hufe ebenfalls in den Morast setzte. Einen Moment lang spürte sie einen Stich im Herzen. Sie hielt Ausschau nach dem jungen Krokodilreiter, aber wenn er in der Nähe war, zeigte er sich nicht.
    Â»Junge Generäle werden noch strenger ausgewählt als Tupacs Nebenfrauen«, begann Vinoc, während sein Lamagua den Schritt wieder etwas beschleunigte. »Ihr Körper wird genauestens vermessen, die Länge der Arme, Beine, die Breite der Schultern. Ihre Schnelligkeit, die Geschicklichkeit, Mut, Kraft und Ausdauer werden gründlich geprüft.« Er tippte sich an die Brust. »Das Wichtigste ist aber die absolute Treue zum Inka, auch wenn man dafür sein eigenes Herz verleugnen muss. Und genau da haben sie bei mir wohl nicht richtig hingesehen …«
    Vinoc hob den Kopf und atmete tief ein. »Herrlich! Wie lange habe ich das nicht gerochen! Als ich jünger war, war die Luft sogar noch besser.«
    Schnell wurde er wieder ernst. »Wir müssen nicht nur nach vorne sehen, auch nach hinten. Die Maiskarawane kann nicht mehr weit entfernt sein. Sie ist schon zu lange überfällig, wie du weißt. Ihre Reise startet im Norden.«
    Sein Lamagua machte zwei Sätze durch einen Busch.
    Â»Noch sind wir in Tupacs Reich«, sagte der General, spähte aber trotzdem immer wieder in die Baumwipfel.
    Die Vorstellung, von einem Spinnenmenschen gefangen zu werden, beunruhigte Animaya zutiefst. Mit Grausen sprang ihr das Bild der leer gesaugten

Weitere Kostenlose Bücher