Der blutrote Kolibri
Stirn. Dann stand sie vor Animaya, als brauchte sie deren Einwilligung, auch sie verabschieden zu dürfen. Endlich griff sie zu und zog Animaya an sich.
»Das Schicksal hat dich ausgesucht«, flüsterte sie ihr ins Ohr. »Du wirst sehen, es ist leichter, mit dem Strom zu schwim men, als gegen die Wellen anzukämpfen. Doch am Ende kommst du an einer ganz anderen Stelle an Land â¦Â«
Animaya lächelte. »Ich denke nicht über mein Schicksal nach, bevor die Knoten geknüpft sind. Ich will nur zu Ende führen, was meine Eltern begonnen haben!«
»Du bist mehr als dein Körper, Animaya. Du bist der Geist, der in dem Körper wohnt. Werde, wer du bist!«
Animaya spürte eine Welle warmer Energie durch ihre Glieder rauschen. Von den FüÃen angefangen breitete sie sich in ihr aus, bis die Hitze schlieÃlich ihren Kopf erreichte. Werde, wer du bist! Sie merkte, dass sie gerade den ersten Schritt auf dem Weg zu sich selbst gemacht hatte.
Wisya nahm einen angekohlten Ast und stieg über den Strich auf der Schwelle. »Na kommt! Und bleibt dicht bei mir!«
DrauÃen waren die beiden Lamaguas von einer Traube mutiger Kinder umringt. Es wurde wirklich Zeit, dass sie den Auflauf beendeten, bevor das Gekicher noch die Wachen alarmierte.
Eben wollte Animaya ihrem alten Nachbarn erklären, wie man mit Lamaguas umgeht, da griff Vinoc bereits nach der Mähne des älteren Tieres. Eigentlich durften nur Generäle reiten. Ein weiteres Rätsel über Vinoc also, das es aufzuklären galt.
Animaya wickelte sich eine Haarsträhne von Kapka eng um den Arm. »Geht!«, zischte sie den Kindern zu. »Geht weg!« Doch erst als Wisya den Stock hob, stoben sie auseinander. Ihre Gesichter wirkten plötzlich leer, als hätte es an diesem Morgen nichts Besonderes zu sehen gegeben.
»Schnell!«, kommandierte die Yatiri. »Meine Kraft ist bald erschöpft!«
Im Laufschritt eilte sie durch die Gassen, bis sie die gröÃeren Häuser der Oberstadt erreichten, den Stock immer vor sich haltend â ein grotesker Anblick, den aber niemand wahrzunehmen schien.
Animaya und Vinoc führten die Lamaguas hinter ihr her. Am Tor angekommen, zog die Yatiri zwischen den Wachen einen weiten Bogen mit ihrem Stab, als wollte sie ein Loch in die Luft sägen. Blitzschnell schlüpfte Vinoc mit seinem Tier hindurch. Als Animaya ihm folgen wollte, hielt Wisya sie an der Schulter fest. Mit Bestürzung sah Animaya, dass die Yatiri von der Anstrengung schmal und faltig geworden war â wie eine ausgequetschte Frucht.
»Das wirst du brauchen«, krächzte sie erschöpft. Mit der freien Hand hängte sie Animaya ein Lederband um den Hals. Ein Lederband mit einem weiÃen Stein dran, halb durchsichtig, wie die Haut der Albinas.
»Der Stein wird verhindern, dass Kapnu Singa deinen Geist aufspüren kann. AuÃerdem vermag er noch so einiges â¦Â«
Ihre letzten Worte gingen in einem Röcheln unter.
»Was �«
»Nun reite schon los!«
Animaya führte ihren Lamaguahengst unter dem Bogen hindurch, den Wisyas jetzt stark zitternder Arm zog. Keiner der Wachen zuckte auch nur mit dem Mundwinkel. Der Zauber wirkte, wenn er auch die ganze Energie der Yatiri geraubt hatte.
Zum ersten Mal seit dem Haremsfest lieà Animaya die schützende Mauer Paititis hinter sich. Aber diesmal war niemand von Tupacs Männern da, der sie bewachte. Der Wald ist böse , besagte das erste Gesetz. Doch Animaya glaubte nicht mehr daran. Ihr war, als würde ein eisernes Band gesprengt, das um ihren Brustkorb gelegen hatte. Ohne sich noch einmal umzusehen, sprang sie auf Kapkas Rücken, griff nach seiner Mähne und sprengte an Vinoc vorbei in den Wald.
Ein unbeschreibliches Glücksgefühl durchströmte ihren Körper. Seit frühester Kindheit, seit Tinku Chaki sie einmal heimlich hinaufgesetzt hatte, träumte sie davon, auf einem Lamagua durch den Wald zu reiten, wohl wissend, dass sich dieser Wunsch niemals erfüllen würde.
Jetzt aber spürte Animaya das mächtige Muskelspiel des Hengstes zwischen ihren Schenkeln. Fühlte den Wind im Gesicht und an ihrem Kleid zerren, während der Wald in hohem Tempo an ihr vorbeizog. Genoss das Kitzeln des gefleckten Fells an ihren Fesseln.
Plötzlich überkam Animaya das Gefühl, zum ersten Mal im Leben richtig frei zu sein, zu fliegen wie ein Vogel. Nun verstand sie
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