Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der blutrote Kolibri

Der blutrote Kolibri

Titel: Der blutrote Kolibri Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Thilo P. Lassak
Vom Netzwerk:
meisten vertraute, gehörte zu dem Volk, das ich am meisten zu hassen gelernt hatte. In dem Moment zuckte die Erkenntnis in mir auf, dass alle Menschen gleich sind. Fremde können Brüder sein, Brüder Feinde. Die Farbe der Haut, die Erziehung, welche Götter du anbetest – das alles hat nichts zu bedeuten. Durch diese Einsicht bekamen sogar die schrecklichen Monate in den Minen noch so etwas wie einen Sinn …«
    Vinocs Worten gewannen durch das anschließende Schweigen noch mehr an Gewicht. Während sie auf einen kleinen Platz ritten, versuchte Animaya, die Sonne am Himmel auszumachen. Wie alt war der Tag? Wie weit hatten sie sich schon von Paititi wegbewegt? Seile oder Netze der Spinnenmenschen bemerkte sie keine.
    Â»Und was ist mit deinem Finger passiert?«
    Â»Weil Mora ein Spinnenmensch war, zog er alle Aufmerksamkeit auf sich. Die Wachen fingen an, ihn mit Fußtritten zu traktieren. Kurz ließen sie mich aus den Augen. Ich zögerte, denn ich wollte Mora nicht der Gewalt meiner Landsleute überlassen. Aber während er schon aus zahlreichen Wunden blutend auf dem Boden lag, sah er mich an. Sein müder Blick befahl mir: Flieh! So dachte ich jedenfalls damals.
    Da lief ich, so schnell mich meine abgemagerten Beine trugen. Ich lief Tag und Nacht, Tag und Nacht, bis ich mich in Sicherheit fühlte. Das schlechte Gewissen aber wurde von Schritt zu Schritt größer, wurde groß und schwer wie ein Felsbrocken, den ich schließlich nicht mehr schleppen konnte. Hatte Moras Blick mich wirklich entlassen? Oder hatte ich nur mein eigenes nacktes Leben retten wollen und meinen Freund im Stich gelassen? Als ich vor lauter Entkräftung umfiel, beschloss ich, wenigstens mein Versprechen zu halten: Ich nahm den Finger in den Mund und biss ihn selbst ab. So ist es mir unmöglich, meinen toten Freund jemals zu vergessen.«
    Â»Du hast dich verstümmelt, obwohl es gar keinen Grund mehr gab?«
    Vinoc zuckte mit den Schultern. »Ist ein Versprechen nicht auch dann noch bindend, wenn derjenige tot ist, dem ich es gegeben habe?«
    Er betrachtete die Lücke an seiner rechten Hand. »Ich beschloss, im Dschungel zu sterben, aber das Schicksal hatte anderes mit mir vor. Eine Maiskarawane las mich auf. Es waren dieselben Generäle, die mich zwei Jahre vorher als Gefange nen in die Minen gebracht hatten. Wegen meines jämmerlichen Aussehens erkannten sie mich nicht. Sie fragten mich nach dem fehlenden Finger. Im Delirium antwortete ich, dass ein Spinnenmensch daran die Schuld trage – so entstand der Mythos, ich habe eine Gefangenschaft bei ihnen überlebt. Wie einen weiteren Sack warfen sie mich auf den Rücken eines La maguas. Bevor man mich in Paititi als Helden feierte, entdeckte mich Wisya und veränderte den Blick der Menschen auf mich. Für sie alle war ich ein Umsiedler, ein alter Bauer von den äußeren Feldern, dem die Spinnenmenschen sein letztes bisschen Verstand geraubt hatten. Nur Wisya wusste, wer ich war, päppelte mich langsam wieder auf und heiratete mich. Ihre Liebe verbannte nach und nach den Hass aus meinem Herzen. Sie wandelte ihn in positive Energie um, in Kraft. Hass schwächt einen Mann, Liebe stärkt ihn. – Den Rest kennst du.«
    Animaya öffnete den Mund, um etwas zu sagen, schloss ihn aber sogleich wieder. Mit bebenden Nüstern hatten die Lamaguas haltgemacht. Sie standen am Ufer eines braunen Gewässers, das sich träge fließend durch den Dschungel schlängelte. Der Knochenfluss, die Grenze ihres Reichs. Hier war er noch dreckiger als bei Paititi. Der Schmutz schien sich mit der Zeit zu setzen und den Boden des Flusses zu verkleben. Eine aufgedunsene Hirschkuh trieb wie ein Mahnmal vorbei. Hinter ihr eine bunte Spur im Wasser, die einen beißenden Geruch verströmte.
    Vinoc zeigte auf die andere Seite. »Da drüben beginnt das Territorium der Spinnenmenschen«, erklärte er. »Den Fluss selbst beanspruchen die Krokodilreiter für sich. Beides müssen wir durchqueren, um an unser Ziel zu gelangen.«
    Animaya sprang von Kapkas Rücken und tätschelte seinen Hals. »Dann lass uns hier eine Pause machen, die Tiere sind erschöpft.«
    Â»Du hast Recht, auch ich habe Durst. Aber unsere Raststelle ist am anderen Ufer.« Er drückte seinem Hengst die Hacken in die Seite. Vorsichtig setzte das Lamagua seine Hufe in den Schlamm.
    Â»Stopp!«, rief Animaya.

Weitere Kostenlose Bücher