Der Boss
möglich ist, und bin spontan gewillt, an die Existenz von Schutzengeln zu glauben, wenn ich dafür die nächsten Minuten überlebe.
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6
Kurz vor einer Katastrophe.
Die Schlafzimmertür öffnet sich. Als Frau Denizo ğ lu mich in meinem Hochzeitsanzug erblickt, klatscht sie begeistert in die Hände und gibt Töne von sich wie eine Dreizehnjährige, die bei Hit-Radio Antenne 1 einen Backstage-Pass fürs Justin-Bieber-Konzert gewonnen hat.
»Aaaaaaahhhhhhhhhhh! Allah Allah! Allah Allah! Hahahaha! Allah Allah! Allah Allah! Allah Allah! Allah Allah! Allah Allah! Hahahahaaa!!!«
Aylin streicht über den Stoff und zwinkert mir zu:
»Eigentlich schon irgendwie sexy.«
Ich fühle mich eher wie ein Zuhälter, aber solange ich Aylin gefalle und meine nackte Mutter verdecke, bin ich zufrieden. Frau Denizo ğ lu hat sich noch immer nicht beruhigt:
»Allah, Allah! Allah, Allah! Jetzt dreh dich um, Daniel.«
Ich drehe mich um und schaue nun genau auf die Brüste meiner 25-jährigen Mutter. Ich schließe die Augen und würde alles dafür geben, dass diese Situation aufhört. Ich würde mir sogar ein Flippers-Konzert angucken oder zur »Latinoparty mit DJ Klaus« im Bürgerzentrum Köln-Porz gehen. Als ich erneuten Jubel von Frau Denizo ğ lu vernehme, versuche ich, die Aufmerksamkeit endlich von mir und dem Bild wegzulenken: Ich weise zum Stoff-Harlekin, den ich auf dem Kopfkissen platziert habe:
»Guckt mal, wie süß der aussieht!«
Meine Mutter schaut mich irritiert an, weil ich normalerweise nicht so einen Stuss rede.
Frau Denizo ğ lu gibt nur einen kurzen, quietschenden Jubellaut beim Anblick des Stoff-Harlekins von sich und wendet sich sofort wieder mir zu:
»Vallaha, unheimlich elegant. Nicht wahr, Frau Hageberger, ist doch unheimlich elegant, oder?!«
Für meine Mutter, die mich zwar in Windeln, Strampelanzügen, Cordhosen, Jeans und Shorts mit lustigen Tiermotiven gesehen hat, aber noch nie in einem schwarzen Glanzanzug, scheint das Wort »elegant« nicht zu 100 % auf das zuzutreffen, was da gerade ihr Nackt-Porträt verdeckt. Auch mein Vater, der in diesem Moment ins Zimmer humpelt, schaut mich mit einem beunruhigten Das-ist-nicht-mein-Sohn-Blick an.
Ich versuche, die Szene möglichst schnell zu beenden:
»Puh, ich habe richtig Kohldampf – wollen wir nicht schon mal ins Esszimmer gehen?!«
Meine Mutter sieht mich tadelnd an.
»Daniel, du weißt doch: erst Bescherung, dann essen.«
Da sind meine Eltern spießig. Es hängt zwar Plastikmüll am Baum und zur Bescherung läuft Wolf Biermann, aber das Ritual muss jedes Mal exakt gleich ablaufen. Dass Familie Denizo ğ lu eigenmächtig die Abfolge geändert hat, war schon schwer zu schlucken. Dann bringt mich meine Mutter in eine schwierige Lage:
»Daniel, hol doch aus dem Keller noch eine Kiste Château Fenouche für Ingeborg und Dimiter.«
»Okay.«
Warum habe ich nur »okay« gesagt? Jetzt warten meine Mutter und Frau Denizo ğ lu darauf, dass ich gehe – und damit würde der Blick frei. Ich suche fieberhaft nach Argumenten fürs Stehenbleiben und komme nur auf drei jämmerliche Ausreden:
Ich täusche einen Wadenkrampf vor (dumm, weil ich mich dann auf den Boden legen müsste).
Ich falle in Ohnmacht (nicht ganz so dumm – ich müsste zwar auch zu Boden gehen, könnte aber vielleicht im Fallen das Bild mit runterreißen).
Ich erkläre, dass ich vergessen habe, meine Tai-Chi-Übung zu machen, und das an Ort und Stelle nachholen will (extrem dumm, denn ich habe keine Ahnung, wie eine Tai-Chi-Übung aussieht).
Als ich sehe, wie Aylin mich verliebt anlächelt, wähle ich in einem Anfall von Übermut die Flucht nach vorn: Ich gebe die Sicht auf das Bild frei und rede mit der Stimme von Franz Beckenbauer:
»Ja gut äh, sicherlich, der Adonis, er ist in jedem Museum dieser Welt zu Hause, der Adonis, er ist ein Mythos, eine Legende, genau wie der Lothar Matthäus, und, äh, ja gut, meine Mutter … Der eine schämt sich, nackt zu sein; der andere schämt sich für das Dritte Reich – das ist sicherlich ein kleiner kultureller Unterschied.«
Das Schlimmste an einem Versuch, eine peinliche Situation mit Humor zu überspielen: Durch das Ausbleiben des Lachens wird das Scheitern allzu offensichtlich. Herr und Frau Denizo ğ lu schauen schockiert zwischen dem Ölgemälde und meiner Mutter hin und her. Ein innerer Zwang lässt mich nun mit der Stimme von Dieter Hallervorden »Uiuiuiuiuiuiui« sagen. Was ebenso wenig zu ausgelassener Heiterkeit
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