Der Boss
Fluss anzugucken. Eine zähe Masse schiebt sich den Haymarket runter in Richtung Trafalgar Square, den wir überqueren müssen, um zum Victoria Embankment zu gelangen. Nach gut fünfzig Metern auf dem größten Platz Londons geht es nicht weiter. Wir stehen mit 19 Tüten im Gewühl und schauen auf die gigantische Säule, die Admiral Nelson für seinen Sieg gegen die Franzosen gewidmet wurde. (Beeindruckend – so was hat Horst Hrubesch für den entscheidenden Elfer im Halbfinale der WM 1982 nicht gekriegt.)
Inzwischen ist mir klar geworden, dass wir uns auf einer Mega-Party befinden – Lady Gaga dröhnt aus riesigen Lautsprecherboxen, und Besoffene aus aller Welt tun so, als könne man auf einem halben Quadratmeter pro Person locker abtanzen. Eine riesige Leinwand wird später das Feuerwerk zeigen, das nur 500 Meter weiter in echt stattfindet.
Hinter uns versucht jetzt eine Gruppe meiner Landsleute, das Lied »Paparazzi« mit »Hey, was geht ab?!« von der sympathischen Kombo »Frauenarzt« zu übergrölen – eine Kakofonie, die akustisch durch einen sächsischen Akzent und optisch durch über die Winterjacken gezogene T-Shirts mit lustigen Sprüchen abgerundet wird, von denen »Lieber von Picasso gemalt als vom Schicksal gezeichnet« noch der originellste ist. Genau deshalb will man Silvester in einer Weltstadt verbringen: besoffene Ossis, das Feuerwerk auf der Leinwand und der SAT .1-Fun-Freitag auf T-Shirts gedruckt. Ich verabschiede mich von dem Plan, das beeindruckendste Feuerwerk Europas zu sehen. Plötzlich habe ich eine viel bessere Idee …
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10
Noch 54 Sekunden bis zum neuen Jahr.
Ich öffne die Flasche Bloomsbury-Champagner, die ich zusammen mit zwei Plastik-Sektkelchen in einem Kiosk am Notting Hill Gate erstanden habe, und verschütte beim Eingießen die Hälfte, weil meine Augen sich einfach nicht von meiner Verlobten lösen wollen. Nur mit allergrößter Konzentration schaffe ich es, zumindest einen Teil des Flascheninhalts nicht danebenzugießen. Ich schaue zur Uhr. Noch zwölf Sekunden. Wir zählen:
»Zehn – neun – acht – sieben …«
Aylins roter BH hängt über der Energiesparlampe und sorgt zwar für romantische Stimmung, schränkt aber gleichzeitig die Sicht ein, sodass ich auf dem Weg zum Hotelbett über meine eigenen Schuhe stolpere. Immerhin bleibt fast die Hälfte des Champagners in den Kelchen.
»Sechs – fünf – vier …«
Ich reiche Aylin einen Kelch und schmiege mich an sie.
»Drei – zwei – eins …«
Durch das Fenster ertönen Glocken und Silvesterknaller. Wir trinken den Champagner auf ex und werfen die Kelche weg. Zur Krönung ertönt auch noch die Filmmusik von Notting Hill im Zimmer. Ich bin zu sehr im Rausch, um mich daran zu erinnern, dass Aylin sich diese Musik extra für unseren Silvester-Trip als Klingelton runtergeladen hatte. Plötzlich löst sich Aylin von mir und stößt einen Freudenschrei aus:
»Aaaaaaaaaaaaaaaaaahhhh – Anneeeee!!!!«
»Anne« heißt auf Türkisch Mutter. Und ich bin erstaunt: Ich habe noch nicht ein einziges Mal erlebt, dass Frau Denizo ğ lupünktlich war. Und jetzt hat sie nicht nur exakt um Mitternacht angerufen, sondern sogar die eine Stunde Zeitverschiebung korrekt berücksichtigt. Das passt gar nicht zu ihr.
Ich küsse sanft Aylins Rücken, während sie aufgeregt mit ihrer Mutter spricht – im Vergleich zu einem deutschen Neujahrstelefonat mit der etwa dreihundertfachen emotionalen Intensität. Da meine Schwiegermutter in spe wie üblich die große Entfernung durch Lautstärke ausgleichen will, ist der historische Moment gekommen, in dem ich zum ersten Mal einen türkischen Dialog verstehe:
»Seni ç ok seviyorum, kızım!« (Ich liebe dich sehr, meine Tochter.)
»Ben de seni ç ok seviyorum, Anne!« (Ich liebe dich auch sehr, Mutter.)
Mit diesem Satz kommt man in einer türkischen Familie schon sehr weit – vor allem, wenn man ihn mit dem nötigen Pathos aussprechen kann.
Als die Sprache für mich wieder unverständlich wird, zieht Aylins Po meine Aufmerksamkeit magisch auf sich. Ich lasse meine Hände sanft darauf kreisen und versuche, das Telefonat möglichst schnell einem Ende zuzuführen:
»Grüß deine Mutter schön von mir, ja?«
Endlich vernehme ich die mir bekannten türkischen Abschiedsfloskeln. Während Aylin das Handygespräch beendet, arbeite ich mich mit sanften Küssen von ihrem Bauchnabel weiter nach oben. Plötzlich spüre ich etwas an meinem Ohr. Aylins Zunge? Nein, das
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