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Der Boss

Der Boss

Titel: Der Boss Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Moritz Netenjakob
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ist anatomisch unmöglich. Es ist … Aylins Handy.
    »Daniel?«
    Es ist ein eigenartiges Gefühl, die Brustwarze seiner Verlobten im Mund zu haben und dabei die Stimme seiner Schwiegermutter zu hören.
    »Daniel, ich wünsche wunderschönes neues Jahr und alles alles alles Gute!«
    Ich muss mich erst mal sammeln. Mein Sprachzentrum schaltet auf Autopilot, und ich höre mich sagen:
    »Ihnen auch ein frohes neues Jahr, Frau Denizo ğ lu.«
    »Allah, Allah! Du sollst sagen Anne .«
    »O natürlich, tut mir leid, Anne … Ich … also …«
    »Weißt du, Daniel, ist erstes Silvester für mich ohne Aylin. Wollte ich nur sagen: Pass gut auf mein Tochter auf.«
    Jetzt höre ich ein Schluchzen. Ich schaue Aylin verwirrt an. Weinende Frauen machen mich völlig hilflos. Ich spüre Panik in mir hochsteigen. Aylin hält die Hand über das Handy und flüstert:
    »Das ist ganz normal. Mama wird schnell sentimental, wenn es um mich geht.«
    Aylin lässt das Handy wieder los und nickt mir aufmunternd zu. Mir ist klar, dass es wahrscheinlich als unhöflich empfunden würde, wenn ich jetzt sagen würde: »Sorry, wir reden später, ich schlafe gerade mit Ihrer Tochter.« Also improvisiere ich:
    »Machen Sie sich keine Sorgen, Frau Denizo ğ lu …«
    »Anne.«
    »… äh, Anne, … ich liebe Ihre Tochter, und ich werde immer auf sie aufpassen. Solange sie das will.«
    Aylin lächelt mich zufrieden an, und im Handy höre ich wieder ein lautes Schluchzen, gefolgt von einem Schnäuzen und erneutem Schluchzen. Dann fängt sich Frau Denizo ğ lu und erhöht das Pathos in ihrer Stimme um weitere fünfzig Prozent:
    »Ich liebe dich sehr, Daniel. Du bist für mich Beste. Ich liebe dich unglaublich. Du bist ganz besonderes Mensch, ehrlich. Du hast vallaha sehr großes Herz. Allah soll dich beschützen für immer!«
    Jetzt schluchzt Frau Denizo ğ lu wieder herzzerreißend, bis plötzlich eine herbe Männerstimme ins Telefon krächzt:
    »Daniel?«
    »Oh, Herr Deniz … Baba.«
    »Ich wünsche frohes neues Jahr und alles Gute …«
    »Ja, dir auch, also mu … äh …«
    Aylin flüstert mir den Rest ins Ohr, und ich schicke zum ersten Mal türkische Neujahrsgrüße:
    »Mutlu yıllar.«
    Jetzt lacht Aylins Vater aus voller Kehle:
    »Hahahaaa … du sprichst Türkisch.«
    Ich muss grinsen, weil er nicht »sprichst«, sondern »schiprichst« gesagt hat – ein Trick vieler Türken, um das schwierige »sp« zuumgehen.
Anmerkung
Dann stockt Herrn Denizo ğ lus Lache und geht fast unmerklich in ein Schluchzen über. Aylin nimmt mir das Handy aus der Hand:
    »Baba wird auch schnell sentimental, wenn es um mich geht.«
    Jetzt redet Aylin so schnell mit ihrem Vater, dass ich nicht mehr nachvollziehen kann, worum es geht. Ich zähle fünfmal den Satz »Ich liebe dich«, dann reißt Frau Denizo ğ lu das Gespräch wieder an sich, woraufhin sich die beiden noch je dreimal »Ich liebe dich« sagen, bis schließlich Bruder Cem an der Reihe ist und ich aufhöre zu zählen.
    Mein Kopf dreht sich. Einerseits habe ich Alkohol im Blut, andererseits wurde gerade mein Weltbild erschüttert: Mein Schwiegervater – dieser Inbegriff eines stolzen Osmanen, diese letzte Bastion des wahren Machismo – hat gerade geweint . Und zwar nicht aus einem wirklich wichtigen Grund (also z.   B. weil Trabzonspor verloren hat), sondern weil seine Tochter an Silvester nicht da ist. Mir dämmert langsam, dass Aylin die Trennung von der Familie eventuell nicht ganz so spektakulär geglückt ist, wie ich das als Mitteleuropäer erwartet habe.
    Ich schaue auf die Uhr: 0 Uhr 18. Zwar hat das Zeitalter der Kommunikation dafür gesorgt, dass ein irritierendes Gemisch aus Emotion und Pathos in unser Portobello-Road-Liebesnest gedrungen ist, aber vor mir sitzt immer noch die schönste Frau der Welt. Ich knabbere sanft an Aylins Nacken – mit Erfolg: Nach zwei weiteren Liebesbekundungen drückt Aylin die Gespräch-beenden-Taste. Ich kann mein Glück kaum fassen: Die erotische Warteschleife ist tatsächlich vorbei!
    Aylin wirft das Handy aus dem Bett und schaut mir tief in die Augen. Dann ertönt die Filmmusik von Notting Hill. Diesmal ist es Tante Emine.

[Menü]
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    4 Stunden, 27 Minuten im neuen Jahr.
    Ein Silvesterböller, der direkt vor unserem Hotel explodierte, hat mich vor einer Stunde aus dem Schlaf schrecken lassen. Während Aylin friedlich vor sich hin schlummert, muss ich mir seit 45 Minuten aus dem Nachbarzimmer weibliches Stöhnen anhören, das sich wellenförmig

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