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Der Boss

Der Boss

Titel: Der Boss Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Moritz Netenjakob
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im Zentrum von London das romantischste Silvester aller Zeiten erleben kann.

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    Noch 4 Wochen, 4 Tage, 13 Stunden, 27 Minuten
zum endgültigen Ende meines Einzelkindschicksals.
    Ich sitze mit Aylin im Her Majesty’s Theatre , während das Phantom der Oper gerade der schönen Christine in ihrem Garderobenspiegel erscheint. Dass es sich tatsächlich um das Phantom der Oper handelt, habe ich nur geraten – wir sitzen nämlich direkt unter der Decke im gefühlten dreißigsten Stock, und ich kann nicht mal unterscheiden, ob der Hauptdarsteller eine Maske oder einen Eiterpickel im Gesicht hat. Die Bühne sieht von hier oben wie eine winzige Puppenstube aus – jedenfalls der Teil, der nicht von der großen Säule direkt vor uns verdeckt wird. Immerhin hat sich meine Sorge, unsere Tickets könnten gefälscht sein, als unbegründet erwiesen.
    Um uns herum sitzen etwa dreißig japanische Touristen, von denen mindestens 25 friedlich vor sich hin schlummern. Die wenigen, die noch wach sind, betätigen mit letzter Kraft den Mega-Zoom ihrer Digitalkameras, damit sie wenigstens zu Hause etwas von der Aufführung sehen können.
    Mein Sitznachbar hat mir erzählt, dass Silvester in London der Höhepunkt ihres Europa-Urlaubs »Dreißig Städte in zehn Tagen« ist, bei dem sie auch eine halbe Stunde in Köln waren. (Am Dom sind sie sogar kurz aus dem Bus ausgestiegen!) Heute standen schon die Kronjuwelen, LondonEye, Buckingham Palace, British Museum, Westminster Abbey, Nationalgalerie, Imperial War Museum und Hyde Park auf dem Programm, sowie ein Konzert in der Albert Hall und ein Ausflug nach Oxford. Zwischendurch hatten sie immerhin fünfzehn Minuten frei, um die Stadt auf eigene Faust zu erkunden – dieser Urlaub kann vom Erholungsfaktor her problemlos mit den Balkankriegen mithalten.
    Die wohl miesesten Musicalplätze aller Zeiten – jeder normale Deutsche hätte jetzt extrem schlechte Laune bekommen. Nicht so meine Verlobte mit Migrationshintergrund. Sie hat sich erst minutenlang über die Schönheit des Theaters gefreut und ist seit dem Aufführungsbeginn vor einer halben Stunde vom Bühnengeschehen hingerissen. Offenbar besitzt sie einen eingebauten Spam-Filter für Säulen und schnarchende Japaner.
    Überhaupt kann Aylin störende Elemente hervorragend aus einer Situation ausblenden: Als wir wegen des langen Einkaufs unser romantisches Candlelight-Dinner spontan bei Kentucky Fried Chicken am Leicester Square abhielten und ich ihr das »Colonel’s Burger Menü« mit einer brennenden Kerze im Krautsalat servierte, die ich im Souvenir-Shop hinter ihrem Rücken gekauft hatte, bezeichnete sie das mit Tränen in den Augen als »das romantischste Abendessen meines Lebens«.
    Diese Äußerung würden sicher nicht viele Frauen machen, die bei Kentucky Fried Chicken in einen lauwarmen Burger beißen, aus dem an allen Seiten Mayonnaise heraustropft, während sich das Wachs einer rosafarbenen Big-Ben-Miniatur in den Krautsalat ergießt und ein bierbäuchiger Alt-Punk mit Sex-Pistols-Tattoo über eine Souvenir-Tüte mit Queen-Mum-Gedächtnis-Tassen stolpert, wobei er einen Eimer mit dreißig Chicken Wings auf dem Boden verteilt und anschließend einen neuen Rekord im So-oft-wie-möglich-Fuck-Sagen aufstellt.
    Deutlich gesitteter verhält sich gerade das Phantom der Oper nach dem Scheitern seines Werbens um die schöne Christine: Es schmettert seinen Liebesschmerz mit einem herzzerreißenden finalen Stoßseufzer quer durch die Kulissen – ein magischer Theatermoment. Der sicher noch besser wirkt, wenn man ihn sehen kann. Jetzt erheben sich alle Zuschauer zu Standing Ovations. Alle Zuschauer? Nein! Eine von unbeugsamen Japanern bevölkerte Sitzreihe hört nicht auf, dem Wachsein Widerstand zu leisten.
    Kurz darauf stehen wir an der Garderobe und holen unsere 27 Tüten wieder, für die wir insgesamt 19 Pfund Gebühr zahlen mussten. Ein Pfund pro Tüte – aber nachdem Aylin es nicht geschafft hatte, die etwa 150-jährige Garderobiere runterzuhandeln, konnte sie durch geschicktes Umpacken immerhin die Tütenzahl reduzieren. Was gut zehn Minuten dauerte und den Unmut der Schlange hinter uns auf sich zog (während die vergreiste Garderobiere das Ganze in einer Art Wachkoma teilnahmslos zur Kenntnis nahm).
    Es ist kurz nach halb elf, als wir Her Majesty’s Theatre verlassen und den Weg in Richtung Themse einschlagen. Völlig überraschend sind wir nicht die Einzigen, die auf die Idee gekommen sind, sich das Feuerwerk am

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