Der Boss
etwas Zeit zum Nachdenken:
Ich habe das latente Bauchgefühl, dass mich Jamil als Mann nicht zu 100 % ernst nimmt.
Mir fällt die exakte Bedeutung des Wortes »gorgeous« nicht ein. Ich meine, es bezieht sich auf die Attraktivität einer Frau, hat aber auch einen sexuellen Unterton.
Sehr viel wichtiger als die Bedeutung von »gorgeous« ist, wie der Satz »We could do a sandwich« zu verstehen ist. Ganz langsam gelange ich zu der Schlussfolgerung, dass Jamil mit uns keine Stullen schmieren will. Offensichtlich ist er extrem dreist (oder wie mein Vater sagen würde: aus kulturellen Gründen mit der Kunst der vorsichtigen Annäherung nicht vertraut).
Äh …
Aylin guckt mich auffordernd an. Verdammt, in jedem Scheiß-Handballspiel darf der Trainer eine Auszeit nehmen. Aber für wirklich wichtige Momente gibt es so was nicht. Es geht einfach weiter. Mir bricht der Schweiß aus. Ich muss ihm jetzt so knallhart die Meinung sagen, dass unmissverständlich klar wird: Hier läuft nix. Nada. Niente. Nothing.
In meinem Kopf formt sich der Satz »I’d appreciate if you were so kind to spend the night with someone else«, aber irgendwie habe ich das Gefühl, dass ich mit meinem Streber-Schulenglisch nicht weiterkomme. Selbst wenn ich sagen würde: »I’d fuckin’ appreciate …« – mir fehlt einfach die »Street Credibility«. O Mann, warum habe ich nie eine Eminem- CD gehört?
Die Sekunden dehnen sich. Aylin hat den berechtigten Anspruch auf einen Beschützer, und ich fühle mich wie ein Zwerghamster, der eine Rennmaus gegen Godzilla verteidigen soll. Jamil schaut mich mitleidig an:
»Hey, what’s wrong with you, man?«
Meine Therapeutin hat mir geraten: Wenn ich vor Angst gelähmt bin, soll ich mir das Schlimmste ausmalen, was passieren könnte, dann würde sich die Blockade lösen.
Also, mal überlegen: Aylin stellt fest, dass ich sie niemals beschützen kann, sagt die Hochzeit ab, verbringt die Silvesternacht mit Jamil, der sie erst schwängert und dann bis an sein Lebensende glücklich mit ihr auf Barbados lebt, während ich meinen Kummer in Alkohol ertränke und kurz vor dem Delirium von einer russischen Bande auf ein Schiff verschleppt werde, auf dem man mich drei Jahre lang zu schwerer körperlicher Arbeit zwingt, bis ich schließlich bei einem Fluchtversuch vor der Küste Lettlands von einem Atom-U-Boot gerammt und anschließend von einem Riesenkraken verspeist werde. Ich glaube, die Methode meiner Therapeutin funktioniert nur bei weniger phantasiebegabten Menschen.
Plötzlich erinnere ich mich daran, wie mir Aylin bei unserem ersten Rendezvous an einem Strand bei Antalya einen Blick gezeigt hat, mit dem man männliche Konkurrenten vertreiben kann. Damals waren es sogar mehrere Soldaten – dann wird es doch wohl für einen Schwarzmarkthändler reichen. Ich sammle meine mentalen Kräfte, ziehe meine Augenbrauen hoch und versuche, Jamil drohend anzugucken. Jamil ist tatsächlich irritiert:
»Hey, you okay?!«
Er lacht wieder, aber immerhin etwas verunsichert. Leider geht er noch nicht. Wahrscheinlich steckt in meinem Blick immer noch eine Spur Scham wegen der Kolonialverbrechen unter Wilhelm II .
Ich intensiviere den Blick. Jamils Lache stoppt so abrupt, als hätte ich bei der Eddie-Murphy- DVD die Pausetaste gedrückt. Dann hebt er theatralisch entschuldigend die Arme.
»Hey, be cool, man. I only make joke. Have fun. See you.«
Damit dreht er sich um und fragt die nächsten Passanten, ob sie Phantom of di Opera sehen wollen. Die letzte Minute kam mir zwar länger vor als 10 000 Folgen Lindenstraße , aber ich habe mich tapfer geschlagen. Aylin zollt mir mimisch Respekt, dann küsst sie mich auf den Mund.
»Danke, Daniel. Du bist mein Held.«
Na also. Ich bin der Boss. Und ich bin ein Held. Wenn jetzt noch klebrige Fäden aus meinen Händen kämen, mit denen ich mich von Haus zu Haus schwingen könnte, würde ich vielleicht die Welt retten. Und das, obwohl ich von einem Mann abstamme, dessen einzige Heldentat in seinem Leben darin besteht, dass er eine Giacometti-Statue auf Kosten eines Mittelfußbruchs gerettet hat (ja, der Fuß ist in der Nacht doch angeschwollen).
Ich zünde die nächste Stufe meines perfekten Abends:
»Sollen wir uns vor dem Candlelight-Dinner noch Big Ben angucken?«
»Ja. Nachdem wir die Geschenke besorgt haben.«
»Welche Geschenke?«
»Wir können doch nicht nach London fahren, ohne unseren Eltern was mitzubringen.«
»Also, das gehört zu den wenigen Dingen,
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