Der Boss
die ich wirklich hervorragend beherrsche: Ich kann meinen Eltern von fast überall nix mitbringen. Einmal hab ich ihnen aus Paris nichts mitgebracht – da haben sie sich besonders gefreut.«
Aylin lacht.
»Das ist nicht dein Ernst, oder?!«
»Doch. Wieso?«
»Du bringst deinen Eltern wirklich nie was mit?«
»Nein.«
»Aber sie würden sich doch sicher freuen.«
»Klar. Meine Eltern würden sich auch freuen, wenn ich wieder bei ihnen einziehe und den Rest meines Lebens in schwarzen Rollkragenpullis am Schreibtisch meines Vaters existenzialistische Lyrik produziere.«
Aylin schüttelt lachend den Kopf und schaut mich verliebt an.
»Ab jetzt bringen wir deinen Eltern immer etwas mit. Okay?«
»Okay.«
Warum habe ich nur ›okay‹ gesagt? Bei Aylins Mutter löst schon eine rosa Plastiktulpe aus dem Eineuroshop eine Freude aus, als hätte sie bei Günther Jauch die Millionenfrage richtig beantwortet. Aber meine Eltern haben einen komplizierten Geschmack. Klar, ich könnte einfach irgendwas aus der Mülltonne fischen und behaupten, das sei englische Postmoderne. Aber das Lügen ist nicht so mein Ding.
Aylin bleibt abrupt stehen, als sie in einem Schaufenster Kerzen in Form diverser Tierarten erblickt.
»Ooooh, wie süß! Davon kaufen wir fünfzig Stück als Tischdeko für die Hochzeitsfeier.«
»Fünfzig Stück???«
»Stimmt, mit hundert sind wir auf der sicheren Seite. Also, ich würde sagen: je zwanzig Kühe, Löwen, Elefanten, Hunde und Katzen. Was meinst du?«
»Und wenn ich ›Nein‹ sage?«
»Das machst du nicht.«
»Nein?«
»Nein.«
»Okay, dann find’ ich’s gut.«
»Du bist der Beste!«
Meine Zeit als Boss ist offenbar wieder vorbei. Man kann halt nicht gleichzeitig der Boss und der Beste sein.
Wenige Minuten später stehen wir in einem Souvenir-Shop in der Coventry Street vor einem Meer von Royal-Family-Tassen.
»Tante Hatice will unbedingt eine Tasse mit der Queen drauf.«
»Sicher.«
»Obwohl – wenn wir Hatice etwas mitbringen, müssen natürlich auch meine anderen Tanten was kriegen.«
»Klingt logisch.«
»Also Emine, Valide, Jale, die beiden anderen Emines, Nursel, Nihal, Özlem, Ay ş e, Ay ş e und Nilüfer.«
»Dann kaufen wir Hatice vielleicht lieber nichts, damit nicht alle beleidigt sind.«
»Ja. Oder – wir kaufen einfach allen was.«
»Oder so.«
»Meinst du, Onkel Mustafa wäre traurig, wenn wir ihm nichts mitbringen?«
»Ich denke, er würde es verkraften.«
»Ich hab’s: Er kriegt englischen Tee!«
»Okay.«
»Aber was mach ich dann mit den anderen Onkeln?«
»Keine Ahnung.«
»Wir kaufen einfach 15 von diesen schönen bunten Dosen, dann haben wir auf jeden Fall genug.«
»Ja, aber vergiss deine 38 Cousins und Cousinen nicht.«
Den Satz hatte ich eigentlich ironisch gemeint, aber leider ist Aylins Ironieverständnis im Bezug auf ihre Familie außer Kraft gesetzt:
»Oje, daran hab ich gar nicht gedacht.«
»Aylin, das war eigentlich …«
»Pass auf: Für die nehmen wir einfach T-Shirts. Wir sollten’s nicht übertreiben.«
Aylin hat offenbar eine ganz andere Vorstellung von der Bedeutung des Wortes »übertreiben«. Aber sie stammt auch aus einem Haushalt, der bei einem einzigen Abendessen das komplette Bruttosozialprodukt von Luxemburg auf den Tisch stellt.
Zwei Stunden, achtzehn Souvenir-Shops und 642 englische Pfund später haben wir über fünfzig Geschenke gekauft – und ich stelle verblüfft fest: Ich bin nicht etwa genervt wie die Comedians, die aus der Aversion gegen die Shopping-Sucht ihrer Partnerin ganze Abendprogramme gestalten. Nein, ganz im Gegenteil: Ich schwelge in einem nie gekannten Glücksgefühl. Das Einzelkind Daniel Hagenberger, das seine wenigen Verwandten seltener sah als den Zahnarzt und für das der Begriff ›Familie‹ auf einer Stufe mit ansteckenden Krankheiten stand, dieser Daniel Hagenberger hat gerade über fünfzig Geschenke für seine Verwandtschaft gekauft! Ich bin jetzt Mitglied einer großen Gemeinschaft, eines Clans, eines Kollektivs, das gemeinsam durch dick und dünn geht und sich gegenseitig mit Präsenten seine Liebe demonstriert. Ich bin endlich geborgen im Schutz einer Herde – meiner Herde. Ich werde nie wieder allein und einsam sein.
Während sich eine ungewohnte Wärme in meinem Herzen ausbreitet, stehe ich mit meiner Traumfrau am Piccadilly Circus und bin bereit, den Beweis anzutreten, dass man mit 27 prall gefüllten Plastiktüten im Gepäck zusammen mit ein paar Millionen Touristen
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