Der Boss
auf den Höhepunkt zubewegt. So was ist ein bisschen demütigend, wenn man selbst auf Sex verzichten musste. Nachdem Tante Emine mit Onkel Mustafa, zwei Cousins sowie drei Cousinen und schließlich auch noch Tante Ay ş e mit Anhang zum neuen Jahr gratuliert hatten, war es schon fast ein Uhr. Wir nahmen trotzdem noch einen vielversprechenden Anlauf, der jedoch um kurz nach eins von der anderen Tante Emine gestoppt wurde, die leider nicht im Kaffeesatz gesehen hatte, dass Aylin gerade anderweitig beschäftigt war.
Als Kaffeesatzlese-Emine ihre Jahresprognose abgegeben hatte, reichte sie ihr Handy an drei weitere Tanten sowie zwei Onkels und insgesamt fünf Cousins und Cousinen weiter, die unbedingt noch loswerden mussten, dass sie Aylin lieben.
Nach dem Ende dieser Gesprächsfolge gegen zwei Uhr war mein Bemühen um prickelnde Erotik von einer bleiernen Müdigkeit überschattet: Mir fielen beim Sekt-aus-dem-Bauchnabel-Schlürfen die Augenlider zu – bis ich vom erneuten Erklingen der Notting Hill- Musik aus meinem Sekundenschlaf gerissen wurde. Diesmal war es Aylins angetrunkene Cousine Emine, die von unserer Londonreise nichts wusste. Im Halbschlaf bekam ich noch mit, dass sie uns zu einer Party in Köln-Kalk lotsen wollte, wo der Zweitplatzierte einer Castingshow des türkischen Fernsehensangeblich gerade mit ihrer Schwester Yasemin knutschen würde. Dann hatte ich einen verstörenden Traum, in dem Aylin mit ihrer Familie hinter einer riesigen Glaswand lebte und ich nicht an sie herankam. Als ich wie wild mit den Fäusten gegen die Scheibe hämmerte, ohne dass Aylin mich hörte, hat mich der Silvesterkracher gnädigerweise erlöst.
Ich schaue auf Aylin: Sie atmet ruhig und sieht im Schlaf fast noch begehrenswerter aus. Ich lege sanft meinen Arm um sie und bin ein winziges bisschen enttäuscht, dass der Abend wohl nicht als der romantischste aller Zeiten in die Geschichtsbücher eingehen wird. Und irgendwo in meinem Bauch spüre ich: Ich sollte keine Angst vor Aylins zahlreichen männlichen Verehrern haben. Ich sollte Angst vor Aylins Familie haben. Und zwar nicht, weil man mich umbringen will. Sondern, weil man mich integrieren will.
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ZWEITER TEIL
Januar
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12
Noch 3 Wochen, 5 Tage, 14 Stunden, 23 Minuten
zur Hochzeit.
Ich sitze mit meinen Eltern am Esstisch von Familie Denizo ğ lu, auf dem sich mal wieder so viel Fleisch türmt, dass man aus Sicht der Tiere von einem Massenmord sprechen kann.
Aylins Bruder Cem fährt auf seinem iPhone ein Autorennen, verfolgt dabei mit einem Auge das laufende Fernsehprogramm und führt sich gleichzeitig in enormem Tempo Nahrung zu – da soll noch mal einer sagen, Männer seien nicht multitaskingfähig.
Aylin sitzt mir gegenüber und kommuniziert nur über die Augen mit ihrer Mutter: Frau Denizo ğ lu deutet mit dem Blick zunächst auf die Frikadellen und dann auf meine Mutter. Aylins Augen ziehen den Blick ihrer Mutter auf den Teller meiner Mutter, auf dem sich noch eine halbe Frikadelle befindet, woraufhin Frau Denizo ğ lu ihren Blick mit Nachdruck wiederholt – was Aylin mit einem genervten Augenrollen beantwortet. Dieses wird von Frau Denzio ğ lu mit einem strafend-vorwurfsvollen Blick quittiert, woraufhin Aylin ihr genervtes Augenrollen wiederholt, dann aber seufzend meiner Mutter eine weitere Frikadelle auf den Teller gibt und dafür von ihrer Mutter ein wohlwollendes Augenschließen erntet.
Ich bin mal wieder beeindruckt: Aylin kann mit ihrer Mutter minutenlang nur mit den Augen kommunizieren. In den vergangenen Monaten habe ich die Bedeutung zumindest teilweise entschlüsselt:
Die Augensprache zwischen Aylin und ihrer Mutter ist noch wesentlich komplexer – aber ich habe hoffentlich noch viele Jahre Zeit, die verbliebenen Rätsel zu lösen. In diesem Moment schnellen Frau Denizo ğ lus Blicke in einem solchen Tempo hin undher, dass mir der Sinnzusammenhang verloren geht. Ich kann nur vermuten, dass es etwas mit der nahenden Vermählung zu tun hat.
Aylins Eltern haben die Planung der Hochzeitsfeier übernommen – auf dem Gebiet kennen sich Türken nun mal besser aus. Dafür haben wir Deutschen mehr Erfahrung mit Eheverträgen.
Mein Vater hat sich bereits mehrfach geräuspert. Sein übliches Ich-werde-gleich-etwas-Bedeutendes-sagen-Räuspern – aber Frau Denizo ğ lu denkt, dass ihm ein Krümel im Hals steckt, und reicht ihm ein Glas Wasser:
»Hier, Herr Hageberger, Sie müssen trinken, dann rutscht runter.«
Höflichkeitshalber nimmt
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