Der Boss
nicht.«
»Ja.«
»Und?«
»Ich will einfach dableiben.«
»Aber das kann Stunden dauern.«
»Daniel, die ganze Familie bleibt da.«
In diesem Moment kommt Kenans Schwester Orkide im Krankenhaus an und fällt so zielsicher in Ohnmacht, dass ihr Bruder sie gerade noch auffangen kann, bevor Aylin sie mit gut 100 ml Kolonya ins Leben zurückholt. Die Kaffeesatzlese-Emine klärt uns über den Stand der Dinge auf:
»Arzt hat gesagt, war früh genug, ç ok ş ükür.«
Jetzt murmeln Aylin, Kenan, Frau Denizo ğ lu und Orkide gleichzeitig » ç ok ş ükür« (Gott sei Dank).
»Wird werden wieder gesund in ş allah.«
Jetzt murmeln alle gleichzeitig »in ş allah« (Allah soll es erlauben) und blicken sich um, als würden sie etwas suchen. Ein paar Sekunden lang bin ich verwirrt. Dann findet Aylin ein Holzgeländer, zu dem sich nun alle schnell begeben, um eilig draufzuklopfen, wobei sie erneut mehrfach »in ş allah« sagen. Anschließend beißt sich jeder auf die Zunge und zieht sich am rechten Ohrläppchen. Diese Menschen scheinen weder Allah noch den Ärzten wirklich zu vertrauen.
Ich wage noch einen Versuch:
»Wir könnten auch alle zusammen essen gehen.«
Aylin schüttelt nur den Kopf und schließt dabei die Augen.Die Diskussion ist beendet. Ich lösche eine weitere SMS meines Vaters, in der er mich vor einer Woche auf eine Impressionisten-Ausstellung im Museum Ludwig aufmerksam gemacht hat, und mache so meinen Speicher für Marks Antwort frei. Die nicht lange auf sich warten lässt:
»O nein! Tut mir total leid. Wenn du reden willst, melde dich. Brülle auf der Südtribüne für dich mit. Dein Jacques Gelee.«
Mich erfasst ein kurzer Moment der Traurigkeit – weniger wegen des verpassten Fußballspiels als wegen der abgesagten Hochzeit. Dann wird meine Aufmerksamkeit von Aylins Cousine Orkide auf sich gezogen, die jetzt tränenüberströmt in den OP – Bereich stürmt, gefolgt von Kenan. Die beiden sind dabei, völlig ihre Fassung zu verlieren. Vielleicht kann ich ja durch meine Anwesenheit dazu beitragen, dass Aylins Familie die Operation mit etwas mehr Distanz und Gelassenheit verfolgt.
Oma Berta hatte vor neun Jahren auch eine Bypass- OP . Dadurch bin ich mit dem Ablauf vertraut und werde meine aufgeregten türkischen Verwandten mit Nüchternheit und der Evidenz der Fakten beruhigen können. Dann werden sie mich noch mehr respektieren und feststellen, dass ich etwas Wertvolles in die Familie einbringen kann. Dass nicht nur die deutsche Kultur von der türkischen Lebendigkeit profitieren kann, sondern auch die türkische Kultur von der deutschen Sachlichkeit.
Kenan und Orkide werden von einem kräftigen Krankenpfleger zurück in den Flur geschoben. Ich sehe Angst in ihren Augen und gehe zu ihnen:
»Macht euch keine Sorgen. Eure Mutter wird es überleben. Solche OP s sind heute reine Routine.«
Kenan nickt und klopft mir abwesend auf die Schulter.
»Danke. Du hast recht.«
Im selben Moment bewirkt ein Windstoß, dass mehrere Blütenblätter einer Geranie zu Boden fallen. Kaffeesatzlese-Emine schreckt hoch:
»O nein! Das ist ein Zeichen!«
Kenan wird bleich, dann pfeffert er sein iPhone auf den Boden und tritt es kaputt, woraufhin Orkide einen hysterischen Heulkrampf bekommt, gefolgt von einem noch hysterischeren Tröstungsversuch von Kenan. Ich verkneife mir den Satz »Ja, das ist ein Zeichen. Und zwar dafür, dass man die Blume gießen sollte.«
Vielleicht sollte ich noch ein paar Minuten warten, bevor ich die deutsche Sachlichkeit erneut einbringe.
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22
Zwei Stunden nach Beginn der OP .
Wir sitzen mit zwanzig Familienmitgliedern im Wartebereich des Herzzentrums. Onkel Abdullah hat das Schwarzmeer-Café noch vor Spielende beim Stand von 1 : 1 verlassen und muss seine Schwester wirklich sehr lieben, wenn er für sie den 2 : 1-Siegtreffer für Trabzonspor verpasst hat (er hat sich im Taxi zum Krankenhaus das Spielende via Handy von einem Mann im Café live schildern lassen).
Nach Oma Bertas Herzinfarkt beschloss mein Vater, den Rest der Familie erst dann zu informieren, wenn sich die Lage stabilisiert hat. Die Einstellung der Türken scheint in diesem Punkt geringfügig abzuweichen. Offenbar gehört es zu den familiären Pflichten, die gesamte Verwandtschaft möglichst unverzüglich in Panik zu versetzen. Besonders erstaunt hat mich die Reihenfolge der Informationsweitergabe. Wenn ein neues Familienmitglied eintrifft, läuft das Briefing wie folgt ab:
O Gott, sie
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