Der Boss
Schock.
Vielleicht sollte ich Aylin erst mal ausweinen lassen.
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Fünfundfünfzig Sekunden nach dem Schock.
So, es reicht jetzt. Ich habe das Gefühl, dass ich die Spannung künstlich in die Länge ziehe. Irgendwann ist es aber auch mal gut. So.
Aylin weint immer noch.
Langsam wird ihr Schluchzen weniger. Noch weniger. Es hört auf. Aylin schaut mich an. Der Moment ist gekommen, in dem ich die Wahrheit erfahre. Einmal habe ich das bei meinem Hausarzt erlebt, der auf meine Blutwerte schaute und nur »Oioioioioioioioi« sagte. In dem Moment zog mein Leben schon an mir vorbei. Dann machte er eine Pause und sagte noch einmal »Oioioioioioioi«, nur um mir dann mitzuteilen, dass mein Allergiewert extrem hoch war – was bei mir immer der Fall ist. AAAAAAAAAAAAAAHHHH … Ich lenke mich schon wieder ab. Ich habe Angst. Aylin öffnet ihren Mund.
Das ist wie in diesen ganzen Gerichts-Serien, wo es um Todesstrafe oder Freispruch geht und der Richter fragt: »Ist die Jury zu einem einstimmigen Urteil gekommen?« Und man sitzt da und denkt: »Ja, du Idiot, du hast doch gerade den Scheiß-Zettel gelesen, jetzt macht hinne!« AAAAAAAAAAAAAAAAAAAAAAAAAAAAAAAAAHHHHH …
So. Ich kann nicht mehr. Ich muss da jetzt durch:
»Aylin, was ist passiert???«
Die Zeit dehnt sich. Ich halte es nicht mehr aus. Irgendwie absurd, dass meine Zukunft von den Worten abhängt, die jetzt aus ihrem Mund kommen – beziehungsweise noch nicht kommen. AAAAAAAAAH !
Aylin muss sich erst sammeln. Sie macht das nicht absichtlich, aber trotzdem muss ich unwillkürlich an diese ganzen Castingshows denken, wo die Moderatoren die Ergebnisverkündung so grotesk hinauszögern, dass man selbst mit den idiotischsten Kandidaten Mitleid bekommt. Aber hier geht es gerade nicht darum, ob irgendwelche pubertierenden Dumpfbacken zum Superstar, Topmodel oder irgendeiner anderen Marionette der Unterhaltungsindustrie werden – hier geht es um mein Lebensglück !!!
Plötzlich wünsche ich mir einen Werbebreak. Ich will die Wahrheit nicht wissen. Ich will lieber in einem schönen Traum leben als in einer unschönen Realität. Aber Aylins Lippen bewegen sich:
»Daniel … Tante Emine hatte einen Herzinfarkt.«
Mein Herz setzt kurz aus und dann wieder ein. Tante Emine hatte einen Herzinfarkt. Deshalb können wir nicht heiraten. Ich bin unglaublich erleichtert, dass Aylin mich nicht verlassen will! Was bin ich nur für ein Mensch? Aylin sagt mir, dass ihre Tante einen Herzinfarkt hat, und was fühle ich? Die pure Freude! Was sagt das bitte über meinen Charakter aus? Ich habe keine Zeit, darüber nachzudenken.
»O nein! Hat sie … überlebt?«
»Sie wird gleich operiert. Ich wollte mit Mama gerade zum Krankenhaus fahren.«
»Oje … die arme Tante … Welche Emine eigentlich?«
»Die Mutter von Gül, Orkide und Kenan.«
»Also nicht die Kaffeesatz-Emine?!«
»Nein. Die, die uns in ihr Sommerhaus eingeladen hat.«
» Alle deine Tanten haben uns in ihr Sommerhaus eingeladen.«
»Die wir im Reisebüro getroffen haben.«
»Oh. Die Arme. Es tut mir so leid.«
Wir umarmen uns lange. Ich spüre zwar immer noch mehr Erleichterung als Mitgefühl, aber langsam vermischt sich die Freude, dass Aylin mich nicht verlässt, mit der Enttäuschung, dass die Hochzeit verschoben werden muss. Ich versuche, mich zu Mitgefühl für Tante Emine zu zwingen, aber ich habe sie nur zweimal kurz getroffen und vergessen, wie sie aussieht. Mir kommt immer das Gesicht der Kaffeesatzlese-Emine in den Kopf. Erstaunlich –sie sah Schwierigkeiten für die Hochzeit, die nicht aus der Beziehung, sondern von außen kommen. Wie zum Teufel hat sie das in nassem Kaffeepulver gelesen?!
Frau Denizo ğ lu kommt in den Flur. Als sie meine Tränen sieht, drückt sie mich an sich:
»Du bist guter Junge … bist guter Junge … Allah, Allah …«
Sie schluchzt und drückt mich nun so fest, dass ich neben Liebe und Mitgefühl auch Atemnot verspüre. Es klopft, und kurz darauf steht Tante Emines Sohn, Reisebüro-Kenan, in der Tür. Nachdem Aylins Mutter auch ihm eine Weile die Luftzufuhr abgeschnitten hat, klatscht er in die Hände – und ich nehme einen gewissen Widerspruch zwischen der Panik in seinen Augen und seiner oberflächlichen Besonnenheit wahr:
»So, dann lasst uns zur Uniklink fahren.«
Ich hatte vor nicht einmal einer Stunde ein Nahtoderlebnis und versuche, während wir zu viert die Treppe hinunterhasten, einem weiteren vorzubeugen:
»Vielleicht sollte lieber
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