Der Boss
die Tasse unter die Nase.
»Hier, sehen Sie diese Linie? Bedeutet Komplikation. Sie haben übersehen etwas, ganz bestimmt.«
Vom Rest der Familie kommt nun beistimmendes Gemurmel.
Jetzt kann Prof. Dr. Meyer seine Wut kaum noch kontrollieren:
»Lassen Sie mich überlegen: Wir haben auf der einen Seite mich, den Chefarzt des Herzzentrums, mit dreißig Jahren Berufserfahrung, einem Team aus Spezialisten, Computertomografie, Blutanalyse sowie anderen Hilfsmitteln modernster Diagnostik – und auf der anderen Seite eine Hausfrau mit einer ungespülten Tasse. Wessen Diagnose sollte man wohl vertrauen?!«
Er funkelt die Familie wütend an. Nach ein paar Sekunden findet Frau Denizo ğ lu als Erste die Sprache wieder:
»Also moderne Geräte sind gut, vallaha. Aber kann auch passieren Fehler. Kaffeesatz habe ich noch nie erlebt, dass Vorhersage war falsch.«
Als erneut zustimmendes Gemurmel ertönt, winkt Prof. Dr. Meyer kopfschüttelnd ab und geht zurück in Richtung OP – Bereich. Ich laufe ihm nach.
»Äh, Professor Meyer?«
»Ja?«
»Vielleicht wäre es ganz gut, wenn Sie die anderen darauf hinweisen, dass Tante Emine … also Frau Kılı ç daro ğ lu … keine Tabletten einnehmen sollte, die zufällig irgendwem irgendwann mal wegen irgendwas geholfen haben.«
»Gehören Sie zur Familie?«
Ich muss kurz innehalten. Ja, ich will dazugehören. Ja, ich will ein Teil der Herde sein, behütet und beschützt. Das warme Gefühl, das ich beim Geschenkekauf in London hatte, kehrt für kurze Zeit zurück. Aber da ist auch etwas in mir, das sagt: Pass auf, Daniel! Sie denken anders als du. Sie fühlen anders als du. Sie haben andere Werte als du. Und sie werden deine Heterosexualität infrage stellen, wenn sie das Ölbild der Barbapapa-Familie in deinem Wohnzimmer sehen.
Prof. Dr. Meyer wird ungeduldig:
»Also was jetzt – gehören Sie zur Familie oder nicht?«
In diesem Moment kriegt Kenan von einem seiner Cousins eine kräftige Ohrfeige, die ihn viel besser aus seiner Hysterie befreit als meine rationalen Argumente. Plötzlich wirkt diese Kultur irgendwie fremd auf mich und macht mir ein kleines bisschen Angst. Werden sie mich so akzeptieren, wie ich bin? Oder muss ich mich anpassen? Und wenn ja – welche Drogen muss ich nehmen, um so draufzukommen?
Prof. Dr. Meyers Geduld ist erschöpft. Er will sich gerade von mir abwenden, als ich ihn stoppe:
»Professor Dr. Meyer?«
»Ja?!«
»Die ehrliche Antwort ist: Ich habe nicht die geringste Ahnung, ob ich dazugehöre.«
[Menü]
23
20 Minuten vor dem geplatzten Hochzeitstermin.
Nach einer unruhigen Nacht betrete ich mit einem Strauß Sonnenblumen das Herzzentrum der Kölner Uniklinik. Am Info-Schalter sitzt schon wieder – oder noch immer – Hermann Töller:
»Juten Tach. Hamse auch dat Spiel jesehen? 1 : 1, dat war für misch verschenkt.«
»Tja, mit der Champions League wird’s knapp in dieser Saison. Haha, kleiner Spaß. Nicht wahr, das Leben ist ja ernst genug.«
Hermann Töllers Miene verfinstert sich zum ersten Mal.
»Dat is nit lustisch. Dat is tragisch.«
»So gesehen ja. Also, ich möchte zu Frau Kılı ç daro ğ lu.«
»Ach zu den Türken? Dritter Stock, dann immer dem Jeschrei nach bis zu dem Flur, wo vor lauter Besucher kein Arzt mehr reinpasst.«
Als ich in den Aufzug steige, gesellen sich rund zehn Türken zu mir, die höchstwahrscheinlich auch Familienmitglieder sind.
Wie sich herausstellt, haben viele Hochzeitsgäste den Rathausbesuch durch eine Visite bei Tante Emine ersetzt. Bei einer deutschen Hochzeit wäre das nicht so gravierend gewesen. Aber wir reden von einer türkischen Hochzeit. Das bedeutet, dass gerade mehrere Sicherheitskräfte dabei sind, zwischen 200 und 300 Türken aus dem Herzzentrum zu schleusen, das für solche Besucheranstürme nicht ausgerichtet ist. Wenn Tante Emine noch mal operiert werden muss, wird Prof. Dr. Meyer wahrscheinlich die KölnArena reservieren. Während die Sicherheitskräfte gegen zum Teil massiven Widerstand eine große Gruppe ins Treppenhaus zurückdrängen, stürmt auf der anderen Seite eine ebenso großeGruppe mit kreischenden Kindern an ihnen vorbei in Richtung Krankenzimmer. Es ist ein einziges Chaos und erinnert mich an die Untergangsszene in Titanic , als kein Matrose mehr die in Panik geratenen Dritte-Klasse-Passagiere vom Oberdeck fernhalten kann.
Nach gut fünf Minuten nutze ich den Moment, in dem die Sicherheitskräfte eine gut
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