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Der Boss

Der Boss

Titel: Der Boss Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Moritz Netenjakob
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stirbt, wir werden sie nie mehr wiedersehen, sie verlässt uns, Allah soll ihrer Seele gnädig sein, ich kann nicht mehr, auch ich will sterben.
Weinen. Schluchzen. Wimmern.
    Erst wenn das neu eingetroffene Familienmitglied kalkweiß im Gesicht und mit den Nerven am Ende ist, folgt die nächste Information:
Die Ärzte haben gesagt, es wird alles gut.
    Das ist dramaturgisch gesehen hervorragend. Denn wenn man direkt sagen würde, dass alles gut wird, wäre ja die Überraschung weg. Und ich würde niemals Szenen erleben, gegen die Jenseits von Afrika wie ein gefühlskalter Autorenfilm anmutet.
    Als ich einmal eigenmächtig die Reihenfolge änderte und Herrn Denizo ğ lu unmittelbar nach seinem Eintreffen darüber informierte, dass es gut aussehe, fing ich mir sogar einige böse Blicke ein. Seitdem überlasse ich die Ereignisse lieber ihrem natürlichen Lauf und lenke mich von der andauernden Hysterie ab, indem ich die Partie Köln   –   Wolfsburg auf dem Live-Ticker meines Handys verfolge.
    Der Einzige, der außer mir bisher versucht hat, die Gemüter zu beruhigen, ist Onkel Abdullah. Als Emines Tochter Orkide zum geschätzt zwanzigsten Mal nachfragte, warum die OP so lange dauere, und sicher war, dass das auf jeden Fall ein schlechtes Zeichen sei, beruhigte sie Abdullah mit den Worten:
    »Keine Angst, dauert immer zwei Stunden so eine OP .«
    Das hat er vor einer Stunde gesagt, und die zwei Stunden sind um – was in diesem Moment von Orkide bemerkt wird:
    »O nein! Es gibt Komplikationen!«
    Sie fängt an zu schluchzen und muss vom leichenblassen Kenan gestützt werden. Alle reden aufgeregt durcheinander. Mindestens vier Frauen fangen an zu weinen. Mein Moment ist gekommen.
    »Entschuldigung?!«
    Niemand reagiert auf mich. Ich werde lauter:
    » ENTSCHULDIGUNG ?!«
    Das Chaos um mich herum ist einfach zu groß. Ich nehme allen Mut zusammen und brülle so laut ich kann:
    » RRRRUUUUUUUUHHHEEEEEE !!!!!!!!!«
    Alle schauen mich überrascht an. Ich bin selbst erstaunt von mir. Aber ich habe die Aufmerksamkeit, die ich brauche:
    »Entschuldigung. Aber bei meiner Oma Berta wurde exakt die gleiche Operation durchgeführt. Und es hat dreieinhalb Stunden gedauert. Die Ärzte haben uns erklärt, dass das ganz normal ist. Es kann sogar länger als vier Stunden dauern. Es besteht also kein Grund zur Sorge.«
    Ich habe es geschafft. Die Gemüter beruhigen sich. Während meine Informationen gerade für die nicht der deutschen Sprache mächtigen Verwandten ins Türkische übersetzt werden, nehmen langsam alle wieder ihre Plätze ein. Ich bin stolz auf mich. Nach einer Weile wendet sich Orkide an Onkel Abdullah:
    »Und warum hast du gesagt, es dauert zwei Stunden?«
    »Ich habe gehört.«
    »Von wem?«
    »Weiß nicht. Aber ist allgemein bekannt, dass dauert zwei Stunden.«
    Ich sehe, dass erneut Panik in Orkide hochsteigt. Ich versuche gegenzusteuern.
    »Aber wie gesagt, im Falle von Oma Berta …«
    Onkel Abdullah unterbricht mich.
    »Normal ist zwei Stunden. Vielleicht, bei Oma gab auch Komplikationen.«
    »Nein, wie schon gesagt …«
    »Wie alt war deine Oma bei Operation?«
    »Dreiundachtzig.«
    »Siehst du. Bei ältere Mensche dauert immer länger.«
    Ich finde es ein klein wenig egoistisch von Onkel Abdullah, dass er die gesamte Familie weiter in Panik hält, nur um seine Wissenslücke nicht zugeben zu müssen.
    »Ich bitte dich, Onkel Abdullah, sag doch einfach, du bist dir nicht sicher.«
    Jetzt fange ich mir von Onkel Abdullah einen Blick ein, der selbst Reiner Calmund zum Schweigen gebracht hätte, und gebe auf. Die Panik ist ohnehin schon im Zimmer zurück. Frau Denizo ğ lu bricht in Tränen aus:
    »Bei Allah, sie wird sterben!«
    In diesem Moment meldet sich mein Live-Ticker: 1   :   0 für Köln! Ich kann den Jubelschrei nicht zu 100   % unterdrücken – und habe Glück, dass Frau Denizo ğ lu so laut getröstet wird, dass nur zwei oder drei Familienmitglieder das schlechte Timing meiner Freude bemerken.
    In den folgenden Minuten wird jeder, der aus dem OP – Bereich kommt, von der Familie mit Fragen bombardiert, selbst die Putzfrau, die aber als Türkin mit Hysteriekompetenz ausgestattet ist: Durch ihre sicherlich erfundene Behauptung, dass die OP später angefangen hat, kann sie die Familie über sechzig Sekunden lang ruhigstellen – immerhin länger als der Assistenzarzt, der zuvor versicherte, dass alles normal verläuft. (Frau Denizo ğ lu: »Wenn alles verläuft normal, warum ist nicht

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