Der Boss
hat, einen neuen Guinnessrekord im Lautschnarchen aufzustellen. Es hörte sich an, als würde direkt neben meinem Ohr alle sieben Sekunden eine Harley Davidson gestartet. Nachdem diverse Versuche mit zusammengeknüllten Taschentuchschnipseln gescheitert waren, habe ich mir um halb fünf in der Notapotheke Ohrstöpsel besorgt und bin wohl so um halb sieben eingeschlafen. Um sieben weckte mich dann Onkel Abdullah mit dem Hinweis, dass wir jetzt zum gemeinsamen Frühstück ins Krankenhaus fahren.
Als wir Herzinfarkt-Emines Zimmer betreten, sitzen Aylin, Emines Mann Mustafa sowie Emines Kinder Orkide, Gül und Kenan vor einer extrem reduzierten Version der türkischen Frühstückskultur – also nur gut drei Kilo Schafskäse, 15 Knoblauchwürste, zehn Sesamkringel und lediglich vier verschiedene Sorten Oliven.
Kaffeesatzlese-Emine bedient den Samowar auf der Fensterbank, den Kenan gestern noch geliefert hat. Herzinfarkt-Emine schläft – im Gegensatz zu der Mitpatientin mit den weißen Haaren, die der Familie auf eigenen Wunsch ins neue Zimmer gefolgt ist und das Treiben amüsiert beobachtet. Als Aylin mich sieht, springt sie auf und umarmt mich. Auch sie sieht übernächtigt aus.
»Hast du im Krankenhaus übernachtet?«
»Ja, ich bin auf dem Stuhl eingeschlafen, und als ich aufgewacht bin, war es schon fünf. Da bin ich gleich da geblieben.«
»Ich dachte, die Besuchszeit geht nur bis 18 Uhr?!«
»Ja, aber die Nachtschwester war mal mit Nurcan zusammen.«
»Nurcan?«
»Der Sohn von Ş ükriye.«
Ich verzichte darauf zu fragen, wer Ş ükriye ist, und stelle lieber fest: Aylins Familie hat mehr Beziehungen als die Russen-Mafia.
Außerdem habe ich inzwischen gelernt, dass es für Türken im Umgang mit einer kranken Tante vier goldene Regeln gibt:
Wer die Tante liebt, ist die ganze Zeit da.
Wer die Tante liebt, wird vor Sorge hysterisch.
Wer die Tante liebt, der tut alles, was sie verlangt.
Wer am längsten da ist, am hysterischsten wird und am meisten tut, hat gewonnen.
Als Aylin keine Anstalten macht, das Krankenhaus zu verlassen, akzeptiere ich das Schicksal, nehme mir einen Stuhl und fange an, ein Tagebuch zu schreiben.
8 Uhr 31:
Herzinfarkt-Emine braucht dringend frisches Gebäck. Onkel Mustafa fährt in die Weidengasse, um welches zu besorgen.
9 Uhr 15:
Prof. Dr. Meyer erwischt Herzinfarkt-Emine dabei, dass sie heimlich Aspirin nimmt. Er erklärt, dass sie nicht in Eigenregie Medizin schlucken darf. Sie glaubt ihm nicht.
9 Uhr 21:
Großer Familienstreit auf Türkisch. Hysterische Emotionen. Verstehe nur ein einziges Wort: »Aspirin«.
9 Uhr 32:
Mustafa kommt mit Gebäck, aber Tante Emine will jetzt lieber frischen Orangensaft. Mustafa geht wieder.
10 Uhr 21:
Onkel Mustafa kommt mit frischem Orangensaft, aber Tante Emine will jetzt doch lieber Wasser trinken.
11 Uhr 25:
Kaffeesatzlese-Emine bekommt einen Schwächeanfall. Herzinfarkt-Emine ist sauer.
11 Uhr 29:
Großer hysterischer Familienstreit auf Türkisch. Diesmal verstehe ich kein Wort. Tante Emines Puls geht auf 187. Prof. Dr. Meyer schmeißt alle raus.
11 Uhr 32:
Alle sind wieder drin. Puls 124. Kenan verkauft Tante Emines Bettnachbarin zehn Packungen Hugo Woman zum Preis von neun.
11 Uhr 37:
Frau Denizo ğ lu versucht, ihren Neffen Harun mit der Krankenschwester zu verkuppeln. Beide sind genervt.
11 Uhr 44:
Herzinfarkt-Emine droht erneut mit ihrem baldigen Ableben, wenn sie im Zimmer- TV keine türkischen Sender bekommt. Onkel Mustafa springt auf, um eine Satellitenschüssel zu besorgen.
13 Uhr 08:
Onkel Mustafa kommt mit Satellitenschüssel und montiert sie auf dem Nachttisch.
13 Uhr 22:
Jetzt läuft türkisches Fernsehen. Herzinfarkt-Emine schaut nicht hin.
13 Uhr 40:
Seit der Fernseher läuft, reden alle noch lauter. Habe Kopfschmerzen.
Ich stecke das Tagebuch ein und gehe den Flur im dritten Stock der Herzklinik in Richtung Fahrstuhl. Unfassbar – ich habe ein schlechtes Gewissen, obwohl ich jetzt in drei Tagen mehr Zeit mit Tante Emine verbracht habe als in den vergangenen zehn Jahren mit meinen Eltern. Irgendwie habe ich das Gefühl, dass in Aylins Familie Liebe mit Anwesenheit verwechselt wird.
Diese Türken haben das Prinzip des emotionalen Drucks perfektioniert. Kenan hat sogar sein Reisebüro geschlossen, um bei seiner Mutter zu sein; zwei Schwestern sowie diverse Nichten und Neffen haben sich beurlauben lassen; da komme ich mir irgendwie schäbig vor, weil ich morgen zur Arbeit will.
Aber der
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