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Der Boss

Der Boss

Titel: Der Boss Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Moritz Netenjakob
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Satz »Die Tante meiner Verlobten liegt im Krankenhaus« gilt in der Werbebranche nicht unbedingt als gute Entschuldigung. Selbst » Ich liege im Krankenhaus« ist keine hinreichende Begründung, einer Besprechung fernzubleiben. Rüdiger Kleinmüller hat einmal per Skype an einer Konferenz teilgenommen, bis sein Bett in den OP geschoben wurde. Und selbst da musste der Arzt sehr eindringlich darauf hinweisen, dass er den Laptop jetzt ausschalten müsse. »Ich bin tot« ist eigentlich die einzige Ausrede, die Rüdiger Kleinmüller gelten lassen würde.Und selbst da würde er auf jeden Fall den Totenschein sehen wollen.
    Als ich gerade in den Aufzug gehen will, spüre ich jemanden hinter mir. Es ist Aylin.
    »Daniel, ich wollte mich bei dir bedanken.«
    »Wofür?«
    »Für alles. Ich meine, wir wollten heiraten. Und jetzt … Aber du bist für mich da. Und für meine Familie.«
    »Ich liebe dich. Vergiss das nicht.«
    »Ich liebe dich auch.«
    Wir küssen uns zärtlich.
    »Aylin, wie lange wird das noch dauern?«
    »Was?«
    »Na das hier. Dass die ganze Familie ihre Zeit im Krankenhaus verbringt.«
    »Weiß nicht. Bis Tante Emine über den Berg ist.«
    »Aylin?«
    »Ja?«
    »Sie ist über den Berg.«
    »Tante Emine entscheidet das selbst. Solange sie sich schlecht fühlt, ist sie nicht offiziell über den Berg.«
    »Und bis dahin können wir auch keinen neuen Hochzeitstermin festlegen.«
    »Ja. Leider. Im Mondlicht wird der Walnussbaum nicht geschüttelt.«
    Ich schaue Aylin irritiert an. Sie lächelt.
    »Türkische Redensart. Will sagen: Man muss warten, bis die Rahmenbedingungen stimmen.«
    »Verstehe. Weißt du, Aylin … Ich habe das Gefühl, Tante Emine nutzt es irgendwie aus, dass sie krank ist, und tyrannisiert jetzt die Familie.«
    »Stimmt. Das denken wir alle.«
    »Das denkt ihr alle?!«
    »Klar. Das ist ja auch ziemlich offensichtlich.«
    »Aber … Warum macht ihr das Spiel dann mit?«
    »Keine Ahnung. Das muss man halt.«
    »Sagt wer?«
    »Tja …«
    »Dir ist klar, dass das bescheuert ist.«
    »Irgendwie schon. Aber so funktioniert unsere Kultur nun mal.«
    »O Mann.«
    »Tut mir leid, dass du da mit reingezogen wirst. Pass auf: Wie wär’s, wenn wir morgen Abend mal was anderes machen? Ohne meine Familie.«
    »Aylin, versteh mich jetzt bitte nicht falsch – ich liebe deine Familie wirklich sehr. Aber … eine Auszeit wäre toll!«
    »Okay, worauf hast du Lust?«
    »Mit Mark und Tanja ins Kino?!«
    »Perfekt. 19 Uhr am Cinedom ?«
    »Jep.«
    »Und dafür bleibst du heute noch ein bisschen hier …?«
    Aylin kann einfach zu süß lächeln. Seufz!
    14 Uhr 18:
    Kaffeesatzlese-Emine hat sich mit irgendwem versöhnt und dafür Streit mit irgendjemand anderem angefangen. Bin zu müde, um mich an alle Namen zu erinnern.
    14 Uhr 23:
    Ich soll für Herzinfarkt-Emine frischen Ayran besorgen, weil Onkel Mustafa schon unterwegs ist, um ein besseres Kissen zu holen.
    14 Uhr 45:
    Dönerladen gefunden und Ayran gekauft. Emine hat keinen Durst mehr.
    15 Uhr 01:
    Kenan verkauft Tante Emines Bettnachbarin eine Nilkreuzfahrt für zwei Personen mit Frühbucherrabatt.
    15 Uhr 12:
    Irgendeine Cousine irgendeines Grades kommt mit ihrem fünfjährigen Sohn Taifun. Dieser wird von Kaffeesatzlese-Emine dazuaufgefordert, der kranken Tante eine Freude zu machen und seinen Penis zu zeigen.
    Mir fällt vor Schreck der Stift auf den Boden – ich kann unmöglich weiterschreiben. Meine türkischen Verwandten haben mich ja schon oft überrascht, aber jetzt muss ich mich mehrfach kneifen, um zu glauben, dass es wirklich passiert:
    Der fünfjährige Taifun lässt, leicht widerwillig, seine Jeans runter und holt dann sein bestes Stück aus der Unterhose, woraufhin alle Anwesenden begeistert klatschen und Laute der Bewunderung von sich geben. Taifun lächelt stolz und beendet die Vorführung, indem er die Hose wieder hochzieht. Ich nehme Aylin zur Seite:
    »Was – war – das?«
    »Was?«
    »Der Junge hat seinen Penis gezeigt und alle haben geklatscht.«
    »Ja. Und?«
    »Na ja, ich … also, äh … ist das normal?«
    »Klar.«
    »Okay, ich äh … ich wollte nur sichergehen.«
    Ich bin beeindruckt. Wahrscheinlich liegt hier die tiefenpsychologische Wurzel für das große Selbstvertrauen türkischer Männer! Wie viele Therapiesitzungen würden wir Deutschen uns ersparen, wenn die Familie einfach mal unsere Penisse bestaunen würde. Wenn mein Vater mir nicht Sartre vorgelesen, sondern meinen Schniedel bejubelt hätte –

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