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Der Boss

Der Boss

Titel: Der Boss Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Moritz Netenjakob
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hätte ich die Einladung für Gaby Haas etwas offensiver formulieren sollen als: »Wenn du nichts anderes vorhast, kannst du ruhig vorbeikommen, das würde mir nichts ausmachen. Nein, ich würde mich sogar … ja, freuen wäre jetzt vielleicht übertrieben, aber, äh … na ja, guck mal in deinen Terminkalender. Also wenn du dran denkst. Wenn nicht, ist auch nicht schlimm.« Aber sie hätte trotzdem spüren können, dass ich sie unbedingt dahaben wollte.
    Auf jeden Fall hatte mir Mark – damals noch mit der Stimme von Otto Waalkes – ein Geburtstagsständchen gebracht, danach habe ich erst Marks Geschenk ausgepackt – das Video Das Lebendes Brian  – sowie die Geschenke meiner Eltern: fünf LP s von Wolf Biermann, das Gesamtwerk von Thomas Mann sowie der Frankreich-Reiseführer Auf den Spuren der Existenzialisten. Als mein Vater sich dann eine Minute lang räusperte, spürte ich sofort, dass er mal wieder etwas Bedeutendes sagen will:
    »Mein Sohn, du bist nun alt genug, dass ich dir ein Geständnis mache … Dein Lieblingsreh im Kölner Stadtwald …«
    »Tina?«
    »Genau. Tina. Also, es ist folgendermaßen: Als wir dir damals erzählt haben, dass man sie in den Bayrischen Nationalpark gebracht hat, weil sie dort viel mehr Auslauf hat … Diese Geschichte … Tja, ich muss es so hart formulieren: Es war eine Lüge.«
    Ich hatte seit mindestens zehn Jahren nicht mehr an mein Lieblingsreh gedacht, das ich bei jedem Stadtwald-Besuch gefüttert hatte und das dann von einem Tag auf den anderen plötzlich nicht mehr da gewesen war. Ich hatte die Geschichte mit dem Bayrischen Nationalpark ebenso geschluckt wie die Tatsache, dass wir es nicht besuchen konnten, weil in Bayern die CSU regiert. Mein Vater wiederholte sein Räusperritual und fuhr fort:
    »Mir war die ganze Zeit nicht wohl bei dem Gedanken, meinen eigenen Sohn zu belügen, aber ich habe mich der Meinung deiner Mutter gebeugt, dass die Wahrheit zu hart für ein siebenjähriges Kind wäre. Obwohl ich dir bereits als Sechsjährigem von Sartre erzählt habe und du insofern schon von der Sinnlosigkeit der Existenz wusstest. Wie dem auch sei, ich habe lange Zeit mit mir gehadert und schließlich mein Gewissen beruhigt, indem ich mir geschworen habe, dir am 18. Geburtstag alles zu sagen. So, jetzt ist es raus. Ich hoffe, du verzeihst mir.«
    Mein Vater tupfte sich den Schweiß von der Stirn und lächelte meine Mutter an, als wäre ihm eine große Last vom Herzen gefallen. Das Geständnis hat ihn so mitgenommen, dass er sogar vergessen hat, die Nazizeit zu erwähnen.
    So viel zu meiner Sozialisation im Bezug auf Lügen. Und jetzt knie ich hinter einem alten Türken und tue so, als würde ich beten. Und es passiert … nichts. Kein Donnergrollen, kein Blitz, der auf mich niederfährt. Nicht einmal Ulrich Wickert erscheint, ummich moralisch zu maßregeln. Plötzlich verspüre ich ein positives Kribbeln in der Magengrube, das mich überrascht. Es ist der Reiz des Verbotenen. Ich bin ein Held, der gerade das vertraute Terrain der deutschen Überkorrektheit verlassen hat und zu einem Abenteuer in das Land der Lügen aufgebrochen ist. Vielleicht gibt es in diesem Land für mich ja noch mehr zu entdecken?

[Menü]
27
    21 Stunden, 56 Minuten nach der
geplatzten Hochzeit.
    Es ist Sonntagmorgen und ich stehe völlig gerädert mit Onkel Abdullah am Info-Schalter des Kölner Herzzentrums. Unter Schlafentzug wirkt die rheinische Fröhlichkeit von Hermann Töller irgendwie penetrant:
    »Hör mal, wat is los mit euch Türken? Et is schon fast acht, und et sind noch nit mal zehn Besucher jekommen – ihr lasst nach.«
    »Also, wo müssen wir heute hin?«
    »Auf jeden Fall zur Prunksitzung der Blauen Funken im Sartory-Saal – um 19 Uhr 30. Ist ausverkauft, aber isch kann da Karten besorgen, weil mein Schwager, der Willibert, der arbeitet mit dem Rolf bei Festartikel Klütsch, und der Rolf sitzt ja im Orjanisationskomitee …«
    Trotz meiner bleiernen Müdigkeit bemerke ich eine gewisse Parallele zwischen kölschem und türkischem Klüngel.
    »Nein, ich meine, in welchem Zimmer liegt Frau Kılı ç daro ğ lu?«
    »Ach so. Heute lautet die Jewinnziffer … 341. Also Zimmernummer, ne, is klar, haha, Jewinnziffer is natürlich Quatsch, aber dat Leben is ja ernst jenug, haha.«
    Mit letzter Kraft schleppe ich mich in den Aufzug und falle zwischen dem zweiten und dem dritten Stock in einen Sekundenschlaf. Mein Defizit rührt daher, dass Onkel Abdullah heute Nacht versucht

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