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Der Boss

Der Boss

Titel: Der Boss Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Moritz Netenjakob
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vielleicht hätte ich dann nicht meinen Jeder-soll-mich-lieb-haben-Komplex. Kann man das eigentlich nachholen? Vielleicht sollte ich eine Männer-Selbsthilfegruppe gründen, in der nacheinander jeder Penis beklatscht wird. Das wäre wahrscheinlich auch das beste Mittel gegen Exhibitionisten: Anstatt die Polizei zu rufen, sollte man einfach applaudieren. Ich bin immer noch begeistert, als ich einen Small Talk mit dem kleinen Taifun versuche:
    »Du musst jetzt mächtig stolz sein. Weißt du, mein bestes Stück wurde nie beklatscht.«
    Taifun schaut mich nachdenklich an:
    »Wieso denn nicht?«
    »Na ja, ich bin Deutscher.«
    »Also wurdest du gar nicht beschnitten?«
    »Äh …«
    Blut schießt in meinen Kopf. Hat Onkel Abdullah das gehört? Er hat es gehört. Was soll ich nur tun? Die Lüge aufdecken? Aber was passiert dann? Alle schauen mich an. Zu spät. Ich muss handeln. Ich höre mich sagen:
    »Doch. Vor drei Jahren.«
    O nein, was habe ich getan? Bisher war ich nur für Onkel Abdullah Moslem. Jetzt haben beide Emine-Tanten, Onkel Mustafa, Kenan und noch drei Verwandte mitgehört, deren Namen ich vergessen habe. Wissen sie, dass ich lüge? Und wenn nicht, wird mir die Antwort in Zukunft Probleme bereiten? Keine Ahnung. Ich bin das Lügen nicht gewohnt. Lügen ist kompliziert. Taifun lässt nicht locker:
    »Hat das wehgetan?«
    »Äh, na ja, also … Es war so … also, da war eine Spritze, und … na ja …«
    Ich räuspere mich mehrfach und komme mir vor wie mein Vater. Taifuns Mutter rettet mich:
    »Taifun, er will nicht drüber reden, also lass ihn.«
    Plötzlich merke ich, dass mich die Herzinfarkt-Emine anders anguckt. Liebevoller. Sie klopft neben sich:
    »Komm, Daniel, setz dich zu mir.«
    Ich setze mich neben die kranke Tante aufs Bett. Sie strahlt mich an und tätschelt meine Wange.
    »Habe ich gar nicht gewusst, dass du bist Moslem.«
    »Tja …«
    »Ist nicht wichtig. Aber ist trotzdem schön. Meine Herz ist sehr froh, passt du noch besser in Familie. Komm her, meine Junge!«
    Tante Emine umarmt mich so liebevoll, dass mir ganz warm ums Herz wird. Ich kann ihr jetzt unmöglich die Wahrheit sagen. Sie hat gerade eine Bypass- OP überstanden. Die Wahrheit würde sie wahrscheinlich nur aufregen. Vielleicht sogar umbringen. Nein, diese Lüge ist gut für ihr Herz.
    Emine tätschelt jetzt meine linke Wange, und zwar exakt die Stelle, die auch Frau Denizo ğ lu bevorzugt. Nach ein paar Jahrenin dieser Familie wird sich dort eine Hornhaut gebildet haben. Emine seufzt einmal theatralisch, dann redet sie mit so pathetischer Stimme, dass der Jesus-Darsteller bei den Passionsspielen in Oberammergau vor Neid erblassen würde:
    »Daniel, du bist für mich beste deutsche Mensch aller Zeiten.«
    Ich lächele gerührt, weil ich immerhin Martin Luther, den Papst und Jürgen Fliege hinter mir gelassen habe. Dass diese Einschätzung auf einer Lüge basiert, stört mich zu meinem eigenen Erstaunen überhaupt nicht mehr. Das verzweifelte Klammern an die Wahrheit hatte etwas mit meiner deutschen Verkrampfung zu tun – es ist genauso sinnlos wie das Warten an einer roten Ampel, wenn weit und breit kein Auto kommt. Oder das Entwerten eines Fahrscheins am Rosenmontag um Mitternacht in einer Straßenbahn voller schunkelnder Lappenclowns (ich habe mich zum Entwerter durchgequetscht und musste einen stockbesoffenen Pinguin zur Seite schieben, der mir anschließend auf die Füße gekotzt hat).
    Jetzt fühle ich mich, als hätte ich plötzlich einen Schlüssel für mein Leben gefunden, der alles einfacher macht, der alle Probleme beseitigen kann: Ich lasse die Überkorrektheit und den Wahrheitsfanatismus los und gewinne nichts weniger als die Freiheit!

[Menü]
28
    Exakt zwei Tage nach der geplatzten Hochzeit.
    Karls bellendes Lachen geht nahtlos in einen Hustenanfall über. Dabei fällt ihm beim Einlegen des Filters der Tabak vom Zigarettenpapier.
    »Bernd Banane will der deutsche Eminem werden? Das ist wirklich krank.«
    Ulli wischt sich die Lachtränen aus den Augen, bis das Wort »krank« in seiner Großhirnrinde angekommen ist und er reflexartig seine Lymphknoten abtastet. In dem Moment kommt Lysa rein.
    »Sorry, die Bahn kam zu spät.«
    Früher war es mir egal, wer wann kommt. Aber jetzt als Boss? Muss ich da nicht für Disziplin sorgen? Nur, wenn ich jetzt sage: ›Ab sofort lege ich Wert auf pünktliches Erscheinen‹ – das passt doch nicht zu mir. Und es wäre auch nicht echt. Nein, Künstler muss man ein

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