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Der Boss

Der Boss

Titel: Der Boss Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Moritz Netenjakob
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Aylin!«
    Ich gehe wie in Trance auf sie zu. Aylin lächelt mich durch den weißen Schleier an. Ihre Augen und Lippen sind dezent, aber wirkungsvoll geschminkt, die Haare elegant zusammengesteckt. Sie sieht bezaubernd aus.
    »Hallo, Daniel.«
    »Was … wie … ich … ich dachte, ich habe eine Besprechung mit einem Tee-Produzenten.«
    »Tja, da haben wir deinen Chef wohl zu einer kleinen Lüge angestiftet.«
    »Wir?«
    »Emine und ich. Seit Kleinmüller mit ihr geschlafen hat, würde er ihr wahrscheinlich jeden Wunsch erfüllen.«
    »Emine hat mit Kleinmüller … Ich hab’s geahnt.«
    Ich lache, und Aylin schaut mich an. Sie atmet tief ein.
    »Weißt du, Daniel … Für mich ist das normal, das ganze Familienchaos. Die ständigen Anrufe, die Emotionen, die Hysterie, der Druck. Ich bin damit aufgewachsen, und manchmal merke ich das alles gar nicht. Deshalb … na ja, also ich denke, mir war nicht klar, dass das alles zu viel für dich war. Dass ich dich überfordert habe. Dass meine Familie dich überfordert hat.«
    »Ich habe es dir ja auch nie gesagt.«
    »Weil du der liebste Mensch der Welt bist und mir alles recht machen wolltest. Du hast genug Zeichen gegeben, aber ich … ich war einfach in diesem Film drin, und … ja, ich wollte allen zeigen, wie toll sich mein deutscher Verlobter in die Familie integriert.Ich wollte so sehr, dass sie dich akzeptieren, dass ich nicht mehr wahrgenommen habe, wie es dir geht. Und wo deine Grenzen sind. Ich wollte das nicht, das musst du mir glauben – aber in den letzten Wochen, da war mir das Bild, das meine Familie von dir hat, viel wichtiger als du . Und dafür möchte ich mich entschuldigen – von ganzem Herzen. Verzeihst du mir?«
    Jetzt sollte ich sie erst mal eine Weile zappeln lassen.
    »Natürlich. Natürlich verzeihe ich dir. Ich liebe dich.«
    Ob man bei 0,36 Sekunden von einer ›Weile‹ sprechen kann, weiß ich nicht. Aber ich habe ihr schon in dem Moment verziehen, als ich sie gesehen habe. Für meine Verhältnisse war ich also extrem cool. Aylin schaut mich lange an.
    »Daniel, benimle evlenmek istiyor musun?«
Anmerkung
    Okay. Aber jetzt lasse ich sie zappeln.
    »Ja. Ja, ich will!«
    Fast eine Sekunde. Weil ich noch einatmen musste.
    Wir umarmen uns ganz fest. Tränen der Freude und der Erleichterung fließen aus unseren Augen – obwohl es eigentlich überflüssig ist, noch mehr Salzwasser zu produzieren, wenn um uns herum die Nordsee tobt. Als ich zur Seite gucke, sehe ich einen älteren Herrn, der angestrengt an uns vorbeistarrt. Ich war so auf Aylin fixiert – ich habe völlig vergessen, dass wir nicht alleine sind. Aylin tupft sich unter ihrem Schleier die Tränen ab.
    »Das ist Herr Petersen, der Standesbeamte. Herr Petersen, das ist Daniel Hagenberger.«
    Herr Petersen steht an einem kleinen Pult, und wie es sich für einen ordentlichen Norddeutschen gehört, sagt er erst mal nichts. Er nickt mir nur höflich zu. Da ich ja inzwischen darin geübt bin, mich schnell in eine fremde Kultur zu integrieren, verzichte auch ich auf Worte und nicke höflich zurück. Ich flüstere Aylin ins Ohr:
    »Aber so schnell kriegt man doch normalerweise keinen Hochzeitstermin. Was hast du dir diesmal für eine Lüge ausgedacht?«
    Aylin flüstert zurück:
    »Ich habe mir keine Lüge ausgedacht, ich habe einfach unsere Geschichte erzählt. Wie wir uns verlobt haben. Und dass du dir gewünscht hast, hier zu heiraten.«
    »Ich wusste gar nicht, dass norddeutsche Beamte Romantiker sind.«
    »Okay, meinen Schmollmund hab ich natürlich auch eingesetzt.«
    Völlig überraschend und wie aus dem Nichts sagt Herr Petersen plötzlich etwas:
    »So.«
    Aylin und ich warten eine gute halbe Minute, dass noch etwas folgt. Ein ›So‹ kommt ja in der Regel nicht alleine. Da schließt sich eigentlich immer was an: ›So, ich bin dann mal weg.‹ … ›So, Ihre Waschmaschine läuft wieder – das macht 600 Euro.‹ … ›So, ich bin jetzt mit der Sonde in Ihrem Magen angekommen.‹
    Aber ein Norddeutscher kann ein ›So‹ auch einfach mal stehen lassen. Das macht einen Rheinländer irgendwann wahnsinnig. Als das ›So‹ nach einer Minute immer noch alleine in der Luft schwebt, wage ich eine Nachfrage:
    »Äh, wollten Sie mit dem Wort ›So‹ andeuten, dass wir anfangen können?«
    Pause.
    Pause.
    Paaaaaauuuuuuuuuuuusssssseeeeeeeeeee.
    »Jouw.«
    Für Norddeutsche müsste es eine Fast-Forward-Taste geben, mit der man sie schneller machen kann. Es ist zwar

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