Der Boss
klatscht begeistert im Takt mit – und wird wenig später von Jupp Süffels, der immer mehr in Fahrt kommt, zum Tanzen aufgefordert. Jetzt improvisiert er:
»Isch sag nicht ›Hure‹ und nicht ›Pisser‹ –
Dat ist unter dem Niveau.
Außer zu ’nem Düsseldorfer,
denn dat macht die Seele froh.«
Auch wenn die Spontan-Dichtung sicherlich nicht den Annette-von-Droste-Hülshoff-Preis gewinnen dürfte, hat Jupp Süffels ganz offensichtlich etwas, das sein Sohn nicht besitzt: Showtalent.
Fünf Minuten später geht die Garderobentür auf. Jupp Süffels kommt mit drohendem Zeigefinger auf mich zu:
»Dat is alles Ihre Schuld! Ihretwegen habe isch die schlimmsten Minuten meines Lebens durchgemacht …«
Dann spüre ich plötzlich seinen Bierbauch auf meinem Magen. Kann es sein, dass mich Jupp Süffels umarmt? Tatsächlich.
»… und Ihretwegen ist mein Jugendtraum endlisch wahr jeworden – isch danke Ihnen, von janzem Herzen!«
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42
2 Stunden, 13 Minuten nach dem Karrierestart von
Jupp Süffels.
Mit roten Augen nähere ich mich dem Gebäude des Berliner Hauptbahnhofs, um meine Rückreise nach Köln anzutreten. Seit zwei Stunden renne ich durch Berlin, in der Hoffnung, dass mein Körper irgendwann Endorphine ausschüttet und sich so der Seelenschmerz reduziert. Ich bin so daneben, dass ich sogar kurz vor zwei Zeugen Jehovas stehen bleibe, um mich zu erkundigen, ob die Welt bald endlich untergeht oder ob ich noch weiter leiden muss. Dummerweise haben sie keinen exakten Armageddon-Zeitplan. Dilettanten!
Ich habe vor einer Stunde mein Handy eingeschaltet – niemand will mich erreichen. Das ist so deprimierend. Wenigstens meine Mutter könnte mich fragen, wo ich gerade bin und was ich gerade mache. Dann könnte ich sagen, dass ich es ihr nicht sage; sie würde anfangen zu raten, und ich wäre genervt – das wäre toll. Oder Mark? Oder Ulli? Oder Lysa? Oder Karl? Irgendwer muss doch Notiz davon nehmen, dass ich noch existiere. Oder … Aylin? Was ist mit ihr?
Mein Handy vibriert in der Hosentasche, und mein Herz macht einen Sprung. Wenn das Aylin ist, dann hat sie im selben Moment an mich gedacht, und das würde bedeuten … Es ist Rüdiger Kleinmüller. Der Mensch im Universum, mit dem ich jetzt am allerwenigsten sprechen will. Aber immer noch besser als gar keiner.
»Ja?«
»Du, Daniel, wie isses denn gelaufen mit Bernd Banane? Ichwollt’s mir aufnehmen, aber da ist irgendwas schiefgelaufen, weil der Speicher meines Festplattenrekorders schon voller Pornos ist, haha. No, I’m only joking, es sind höchstens zwei, drei Softsex-Filme – das Scheiß-Teil ist einfach kaputt.«
»Also, es lief zwar anders als geplant, aber gut, denke ich.«
»Schön. Du, pass auf, ich hab einen Job für dich, es geht um eine Campaign für Ostfriesentee.«
»Klingt ungeheuer spannend.«
»Auf jeden Fall: Ich habe keine Zeit, deshalb musst du zu dem Kick-off-Meeting mit dem Produzenten fahren. Du fragst ihn einfach, was er will, checkst dann ein paar Ideen ab und guckst mal, auf welche Scheiße er anspringt, okay?«
»Okay.«
»Perfect. Du, das ist irgendwo auf dem platten Land – deshalb hab ich einen Driving Service engagiert, der dich da abliefert. Sag mir einfach, wo du gerade bist – dann gebe ich dem Fahrer Bescheid.«
Knapp 15 Minuten später sitze ich in einem Mercedes S-Klasse und verlasse Berlin in Richtung Norden. Ehe ich mir weitere Gedanken machen kann, holt sich mein Körper das, was ich ihm in den letzten Tagen vorenthalten habe: Schlaf.
Gut vier Stunden später werde ich wach. Die Limousine hält vor einem Haus mit typisch friesischem Reetdach. Ich schleiche in Richtung Eingang. Plötzlich stoppt mich die Stimme des Chauffeurs:
»Herr Hagenberger?«
»Ja?«
»Die Besprechung findet dort hinten statt.«
Er weist am Haus vorbei, auf eine Wiese. Dahinter ist Meer. Wie praktisch – da kann ich mich gleich nach der Besprechung reinstürzen. Ich sehe mich zum ersten Mal richtig um: Ich kenne diesen Ort … Ich bin auf der Hamburger Hallig! Dem Ort meiner Verlobung!
Als ich weiter über die Wiese gehe, sehe ich plötzlich zwei Gestalten: einen Mann und eine Frau im weißen Kleid. Es ist … einBrautkleid. Ich denke kurz darüber nach, ob mich eine Wahnvorstellung heimsucht – aber als ich näher komme, sehe ich, dass ich mich nicht getäuscht habe. Es ist tatsächlich ein Brautkleid. Ein wunderschönes Brautkleid. Und darin … Aylin.
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Wann? Wo? Was?
»Aylin?
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