Der Brenner und der liebe Gott
doch noch mit dem Leben davonkommen könnte. Wo die Helena ist, hat er ihnen nicht auf die Nase gebunden, um die Südtirolerin zu schützen, an sein eigenes Überleben hat er da noch gar nicht geglaubt. Aber jetzt hat er auf einmal die Chance gesehen, dass der Knoll ihn noch einmal herausreißt.
Er war jetzt so konzentriert auf den Raum hinter der Scheibe, dass ihm fast vorgekommen ist, er sieht, wie der Bankdirektor und der Baulöwe und der Obersenatsrat dort sitzen und ihn belauern. Aber nicht nur ihn, sie müssen sich auch gegenseitig belauert haben. Er hat jetzt gewusst, zumindest einer von ihnen weiß nichts vom Knoll in der Senkgrube, sonst würden sie den Ochsen nicht so blöd fragen lassen.
»Woher soll ich wissen, wo der Knoll ist?«
»Vielleicht, weil du der Letzte bist, mit dem er gesehen worden ist. Dass in einer Schrebergartensiedlung nichts unbemerkt bleibt, solltest du eigentlich wissen.«
»Ich hab den Knoll verfolgt, weil ich geglaubt hab, er führt mich zur Helena.«
Nach einer halben Tonne Nikotinersatz hat der Tätowierte wieder die Sprache gefunden. »Und dass er mit dem Kauf der Schrebergartenruine das Anrainerrecht erworben hat, davon weißt du natürlich auch nichts. Und dass sein Anwalt schon einen Baustopp erwirkt hat.«
»Das gibt's ja nicht!« »Was gibt's nicht?«
»Dass ihr euch um eure Scheißbaustelle kümmert statt um das Mädchen!«
Der Riesensäugling hat darauf nichts gesagt, sondern neugierig eine neue Frage aus der weißen Plastikzitze gesaugt. »Und warum rennst du hinter der Sunny her, wenn du nichts mit dem Video zu tun hast?«
»Und warum bringt ihr deswegen den Milan gleich um?«
Der Brenner hat sich gedacht, das könnte für den einen oder anderen der feinen Herren auf der anderen Seite der Scheibe auch eine interessante Neuigkeit sein. Und wirklich ist der Wachhund gar nicht mehr zum Antworten gekommen. Der Bauleiter ist hereingestürmt und hat seinen Mund so säuerlich zusammengezogen, dass er kleiner war als seine größte Sommersprosse.
»Das war ein Betriebsunfall. Notwehr!«, hat die sprechende Sommersprosse gesagt. »Der Depp hat seine Spielzeugpistole gezogen. Es ist ein Wahnsinn, dass diese perfekten Imitationen nicht verboten sind!«
»Vielleicht sollte man lieber euch die echten verbieten und den Kindern ihren Spaß lassen.«
»Und du bist schuld, weil du solche Amateure ins Geschäft holst. Aber wir werden dir keinen Strick daraus drehen. Gib uns das Video, und du kannst heimgehen.«
»Ich hab mehrere Videos«, hat der Brenner gesagt. »Aber keinen Videorecorder. Wegschmeißen will ich sie auch nicht. Es sind doch Erinnerungen, auch wenn man sie nicht mehr abspielen kann.«
»Du weißt genau, dass wir nicht von einer VHS-Kassette reden!«, hat der Tätowierte gebrüllt.
»Einen Film mit der Julia Roberts. Den hat einmal eine vergessen, wie sie zu ihrem Mann zurückgezogen ist.«
Der Bauleiter hat seinem Sicherheitschef etwas ins tätowierte Ohr geflüstert, aber der Brenner hat einfach weitergeredet.
»Und dann habe ich noch eines mit der Olympiaabfahrt 1976, weil da hab ich als junger Polizist Dienst in Innsbruck gehabt. Einmal bin ich sogar kurz mit der Königin von Schweden im Bild, die war damals Olympiahostess, und jetzt ist sie Königin von Schweden. Das lösche ich natürlich nicht. Und hinten auf der Kassette ist noch ein Western oben. Aber der Schluss fehlt.«
Sechsundneunzig Stunden nach dem Verschwinden der Helena ist drüben in der Jagdherrenstube das Licht angegangen, und der Brenner hat hinter die Scheibe gesehen. Dass der Täter die Maske abnimmt, ist für das Opfer natürlich immer ein schlechtes Zeichen. Weil späterer Polizeikontakt nicht mehr vorgesehen. Aber interessant. Aus irgendeinem Grund hat es ihn am meisten beunruhigt, dass der Bankdirektor Reinhard nicht da war.
19
Sechsundneunzig Stunden nachdem der Brenner zu lange überlegt hat, welche Schokolade er nehmen soll, sind der Kressdorf und der Obersenatsrat Stachl wie zwei Begräbnis-Ministranten links und rechts von der offenen Senkgrube gestanden und haben zum Holzbalkon hinaufgeschaut. Da oben waren die zwei Arbeiter und haben den Brenner langsam Richtung Senkgrube abgeseilt.
»Stopp!«, hat der Kressdorf gerufen, wie die Füße vom Brenner gerade noch im Trockenen waren. Er war dabei so sachlich, als würde er auf der Baustelle dem Kranführer helfen, die Betonplatten richtig abzustellen. Dann hat er seinen schwebenden Chauffeur noch einmal im
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