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Der Briefwechsel Thomas Bernhard/Siegfried Unseld

Der Briefwechsel Thomas Bernhard/Siegfried Unseld

Titel: Der Briefwechsel Thomas Bernhard/Siegfried Unseld Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Raimund Fellinger
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gleichen Titels in der Erstausgabe des Stimmenimitators .

[370; Anschrift: Ohlsdorf]
     
    Frankfurt am Main
    30. November 1978
    Lieber Thomas,
    hoffentlich sind Sie wieder gut zurückgekommen. Ich bedauere das Ganze sehr, eine so deutsche Erfahrung wäre nicht nötig gewesen. Aber ich bin ja sicher, Sie sahen die Störung nicht als eine gegen Sie persönlich gerichtete an, am nächsten Tag las Lars Gustafsson ohne jegliche Beeinträchtigung. An diesem Tag der ausgefallenen Kroetz-Lesung und der verbotenen Schah-Demonstration waren die Uhren dieser Herren nun einmal auf Protest gestellt. Die Zeitungen haben im übrigen den Vorgang so verurteilt, daß den Protestlern auch im nachhinein das Unmögliche und Lächerliche deutlich gemacht wurde. Im übrigen war Ihr Satz ja gesprochen, daß sie mit Ihnen exakt das machten, wogegen sie beim Universitätspräsidenten protestierten. 1
    Der »Stimmenimitator« imitiert weiterhin kräftig. In Holland und Italien sind von den Verlagen de Arbeiderspers und Adelphi die Rechte definitiv übernommen worden, in den USA, Knopf, und Frankreich, Gallimard, steht dies kurz bevor. Auch der Verkauf entwickelt sich gut.
    Die Dinge nehmen also ihren guten Gang, sie entwickeln sich so, wie wir uns das vorgenommen haben.
    Ich wünsche Ihnen eine gute Zeit des Schreibens und Lebens. Und wenn Sie dann verreisen, so lassen Sie uns Ihre Adresse. 2
    Herzliche Grüße
    Ihr
    [Siegfried Unseld]
    1   Unter dem Datum 22.-24. November berichtet S. U. in der Chronik über die Verhinderung der Lesung von Th. B. im Rahmen der von der Stadt München organisierten Veranstaltungsreihe »Dichter lesen in München I«:
»Thomas Bernhard. Er reiste mit seiner Tante, Frau Stavianicek, an. Er war indigniert, weil ihm eine Lesung im Theater versprochen war und nicht an der Universität. Ich präparierte ihn leicht im Hinblick auf mögliche Proteste. Dann kam das dann doch nicht Erwartete: Bernhards Lesung war am Abend jenes Tages, an dem ursprünglich nachmittags die Lesung von Kroetz stattfinden sollte. [Der Universitätspräsident, Nikolaus Lobkowicz, untersagt sie, weil das bayrische Kultusministerium dem Veranstalter der Lesung, dem marxistischen Studentenbund Spartakus, ein Raumverbot an der Universität erteilt hat.] Und es kam ein weiteres hinzu: Die kommunistischen Gruppen wollten eine Protestversammlung gegen den Schah abhalten. Auch das verbot der Universitätspräsident. Nun waren aber die Randalierer und Störer schon da, und die beschlossen nun, Bernhard nicht lesen zu lassen. Wieder dieselbe Situation: Eine bis zum Bersten gefüllte Aula, noch mehr Leute als am Vorabend [bei der Lesung von Max Frisch]. Man konnte Klaustrophobie bekommen. Jeder Funke konnte hier eine Panik verursachen. Dann begannen die Protestredner und hörten nicht mehr auf. Wieder ein Beispiel: eine kleine, brutale, mit Schlagstöcken ausgerüstete Minderheit terrorisierte die Mehrheit. Es gelang mir, den Kerlen das Mikrofon zu entreißen. Bernhard konnte den Satz sagen, daß sie mit ihm genau das machten, wogegen sie beim Präsidenten protestierten, daß ein Dichter nicht lesen könne. Dann wurde ihm das Mikrofon wieder entrissen. Noch einmal gelang es mir, ihm das Mikrofon zu geben, er las eine Geschichte aus dem ›Stimmenimitator‹, die mit Persien zu tun hatte; aber er wurde dann niedergeschrien, und so verließen wir den Saal. Ich hatte lange, noch bis in die Nacht hinein, zu tun, ihn zu beruhigen.«
    2   Am 31. Dezember teilt Th. B. Burgel Zeeh brieflich mit, daß er noch am selben Abend zur Insel Hvar, Hotel Amfora, aufbreche: »Ich bin ausschliesslich mit Romanschreiben beschäftigt dort und habe alle meine Arbeitspapiere eingepackt. Es geht heute Nacht von Wien ab. Zu Silvester bin ich in der Eisenbahn, sicher ein phantastischer Zustand.«

[371]
     
    Ohlsdorf
    29. 11. 78
    Lieber Siegfried Unseld,
    der 23. November, der letzte Donnerstag, wird mir in Erinnerung bleiben. Es war (und ist!) beschämend. Was mich betrifft, ist es deprimierend, jetzt auch nur an Deutschland zu denken. Wenn Sie selbst nicht Zeuge gewesen wären, müsste ich die Vorfälle in der Münchner Aula rekapitulieren, ich habe eine erschreckende Erfahrung mehr gemacht, die nicht bagatellisiert werden darf, wenn ich mein Leben und meine Existenz ernst nehme und wenn ich auch die Gesellschaft, in welcher zu existieren ich gezwungen bin, ernst nehme.
    Das Recht jedenfalls, von welchem in Deutschland gerade heute soviel gesprochen wird, ist an

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