Der Briefwechsel Thomas Bernhard/Siegfried Unseld
schreibt Paul Theodor Hoffmann unter der Überschrift Den Tod vor Augen das Leben lieben : »Das Deutsche Schauspielhaus hat die absoluten Höhepunkte seiner Saison im Finale erreicht. Nach Hans Lietzaus meisterhafter ›Kirschgarten‹-Inszenierung [. . .] verhalf Claus Peymann dem österreichischen Lyriker und Prosaautor Thomas Bernhard gestern zu einem wahrhaft tollen Theaterdebut. [. . .] Das eigentliche Fest für Boris (sein Geburtstag) ist ein Endspiel. [. . .] im Endspiel wies der Peter-Handke-Senkrechtstarter Peymann (›Publikumsbeschimpfung‹) seinen Regie-Stil aufreizend vor: Chor, Kanon und Wortfetzerei, virtuoser pantomimischer Ausdruck, Realität im Absurden.« In der Welt bemerkt Manfred Leier ( Gastmahl im Schandhaus ): »Ein Ekeldrama also. Ein Stück über die tiefste Erniedrigung, die dadurch gewiß nicht erträglicher wird, daß die Erniedrigten sich kaum noch menschlich gebaren. Ein Ekeldrama aber, das auf Beckett verweist. Archaisches wabert durch das Stück. Die ganze Krankengesellschaft wird zum Inbild der Krankheit schlechthin. Modergeruch steigt aus den Leibern. Bestattung zu Lebzeiten.« Rolf Michaelis ( Elegie für fünfzehn Rollstühle ) urteilt in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung : »Hier steht einer nicht nur mit einem Fuß im Grab. Alles, was dieser Autor schreibt, sind Memoiren aus dem Grab. [. . .] Vor der Spannungs- und Einfallslosigkeit monotoner Jammerlieder auf dem Leierkasten des geistfeindlichen Menschenverächters bewahrt Bernhard sein Werk durch grotesken Humor. [. . .] Zwar großer Daseinsjammer, aber doch unter ›fürchterlichem Gelächter‹. Tränen, aber von einem Clown vergossen.« Hellmuth Karasek meint in der Süddeutschen Zeitung ( Stiefel für Beinlose ): »In den gewaltigen Scheußlichkeiten des letzten Bildes [. . .] hält Peymann mit Bernhard unserer schönen heilen Welt die Fratze dessen vor, was wir ins Asyl verdrängen und was Bernhard aus dem Asyl als Ensor-Visionen wieder auf uns loslassen will. Natürlich hat dergleichen für den Zuschauer etwas pervertiert Kulinarisches.«
[120; Anschrift: 〈Ohlsdorf〉; handschriftlich]
Frankfurt am Main
3. Juli [1970]
Lieber Herr Bernhard,
anbei weitere Kritiken und auch ein Exemplar des »Theater-Sonderdienstes«, mit dem wir versuchen, neue Aufführungen zu erreichen. 1
Herzlich Ihr
Siegfried Unseld
1 Die Anlagen haben sich nicht erhalten. Am 3. Juli 1970 erscheint in der Zeit eine Besprechung von Henning Rischbieter, überschrieben mit Beifall für Bernhards Boris : »Wenige Buhrufe von hinten deckte der anhaltende Beifall zu: der Beifall für Judith Holzmeister, Burgschauspielerin, Dame, Salonschlange und Heroine [. . .]; der Beifall für Angela Schmid [. . .]; der Beifall für Wolf R. Redl, der als Boris [. . .] vermochte, aus einer zagen und müden Kopfwendung eine große, menschliche Geste zu machen [. . .]. Beifall schließlich für den Regisseur Claus Peymann. [. . .] Beifall auch für den Autor? Der Büchner-Preisträger dieses Jahres erschien nicht auf der Bühne. Es sind ihm also Premieren unerträglich? Diese war keine Verhöhnung seiner Kunst [. . .].« Am 2. Juli 1970 schreibt Botho Strauß in der Frankfurter Rundschau : »In seinem ersten Theaterstück ›Ein Fest für Boris‹ ist der Doppelcharakter zwischen künstlich arrangierter, gestischer Sprache und der scheinbar realistischen Entfaltung eines abgesonderten, krankhaft abnormen, in allen menschlichen und gesellschaftlichen Zusammenhängen dissoziierten Milieus zunächst zu Eindeutigkeit hin entschieden. [. . .] Dabei versucht Bernhard, ein grundlegendes Gebot des Theaters zugleich zu erfüllen wie zerstörerisch zu überschreiten: Anders als seine Prosa, läßt dieses Theaterstück noch konkrete menschliche Beziehungen zwischen den grotesk reduzierten Personen [. . .] zu [. . .].«
[121]
Ohlsdorf
5. 7. 70
Lieber Doktor Unseld,
Telegramm, Brief und Besprechungen haben aus mir eine sehr gehobene Stimmung gemacht in den letzten Tagen, die ich aber durch wiederaufgenommene Arbeit wieder zeitgerecht abgebrochen habe. Dass Peymann ein ganz aussergewöhnlich guter Mann für mein Stück ist, war mir von allem Anfang an klar und es brauchte dadurch zwischen ihm und mir nicht viele Worte, aber doch völlig unklar war mir, wie das doch kühle nordische Publikum auf den »Boris« reagieren wird, mein Skeptizismus hat sich nicht bestätigt – und ich bin natürlich
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