Der Briefwechsel Thomas Bernhard/Siegfried Unseld
reiflicher Überlegung glaube, nicht mehr durch den juristischen Satz vom »besten Wissen und Gewissen« zu beschwerenden für uns beide akzeptablen Vorschlag 3, nachdem ich mich mit Ihren beiden Vorschlägen eins und zwei vom 3. November nicht einverstanden erklären kann, denn diese Vorschläge sind tatsächlich, wenn auch nicht in unguter Absicht, das ist selbstverständlich, in Unkenntnis meiner Person gemacht. Aber es dürfte klar sein, dass ich ein Gegner von Rentenempfang und von Leibeigenschaft bin. Sie kennen mich zu gut als kämpferischen Individualisten. Die Freiheit meiner Person muss unangetastet bleiben und eine Bindung kann nur eine solche sein, die meine Existenz und also meine Arbeit fördert, nicht eine solche, die meine Existenz und Arbeit einschränkt, ja lähmt. Das ist klar.
Ich lese jetzt viel im Voltaire.
Darf ich Sie, weil dieser Anlass zu bedeutend ist, um ihn, wie die meisten andern, neunundneunzig Prozent also, zu übergehen, zu dieser Wahl der Deutschen am Wochenende beglückwünschen. Es kommt mir vor, als habe dieses für uns alle so wichtige, aber am Ende, wie wir wissen, immer für das ganze darauf ausgerichtete Europa in so unglücklich katastrophalem Masse schädliche Land, an diesem Wochenende endlich als ein neues, erfreuliches, Geburtstag gehabt. Dieser Geburtstag Ihres neuen Landes freut mich, macht mich glücklich! 1
Bitte wenden Sie jetzt Ihre ganze Aufmerksamkeit dem Brief zwei zu und kommentieren Sie mir meinen Vorschlag so bald es Ihnen möglich ist.
Herzlich Ihr
Thomas Bernhard
1 Die vorgezogene Bundestagswahl am 19. November 1972 endet mit einem Sieg für die SPD unter dem Bundeskanzler Willy Brandt; die SPD wird erstmals stärkste Bundestagsfraktion.
[220]
Ohlsdorf
22. 11. 72
BRIEF ZWEI
Sehr geehrter Herr Doktor Unseld,
es besteht gar kein Zweifel, das bestätigen die Kontoauszüge, die ich gestern von Frau Roser bekommen habe, dass ich selbst der weitaus bessere Anwalt meiner Arbeiten gegenüber den sogenannten Kulturkonzernen, das sind vor allem die Rundfunkanstalten und die Theater, bin, als der Verlag, der infolge seiner Grösse in den Verhandlungen mit diesen Riesenkulturkonsumvereinen auf den einzelnen Autor weniger Rücksicht nehmen kann und, das muss offen ausgesprochen sein, wie in meinem Falle, dem Autor mehr schadet, als nützt – ab einem gewissen Zeitpunkt. Ich persönlich kann mir eine solche Tatsache aber nicht leisten und ich sehe auch gar nicht ein, warum ich nur aus dem einen Grunde der eigenen Nachlässigkeit, und gleichgültig kann mir naturgemäss die Sache nicht sein, auf mehr oder minder für mich doch ungemein hohe Beträge verzichten soll. Das verstehen Sie selbst am besten. Die Kontoauszüge beweisen, dass die hohen Beträge, die eingegangen sind, Ausdruck meiner eigenen Initiative sind, zwei Beispiele erbringen diesen Beweis: das erste betrifft meinen »Boris«, bei welchem ich seinerzeit selbst die Honorarsumme, die der ORF zu zahlen gehabt hat und die dem Verlag damals als eine utopische erschienen ist, ohne die geringste Schwierigkeit bestimmt und erreicht habe, das zweite Beispiel betrifft »Der Ignorant und der Wahnsinnige« (ein nicht unwichtiger Titel in diesem Brief), wo ich selbst, auf eigene Faust die Verhandlung in Salzburg geführt und mein Honorar ausgehandelt habe. Ohne den geringsten Widerstand, muss ich sagen in einer Höhe, die wiederum dem Verlag als doppelt utopisch erschienen war. Abgesehen von dem grossen Erfolg und von der hohen Qualität der Aufführung, die letztenendes doch auf meine umsichtigen Besetzungsvorschläge zurückzuführen sind, hätte ich dann, wäre ich selbst der Verhandlungspartner des ORF gewesen, tatsächlich mindestens nocheinmal dreissigtausend Mark, ja wahrscheinlich, wie ich weiss, was Sie aber nicht wissen können, vierzigtausend für die Aufzeichnungsrechte erhalten, wäre ich vom Verlag verständigt gewesen über die Schwierigkeiten, die er mit seinen ORF-Partnern hat. Ich hätte ganz andere, die (oder den) wichtigsten gehabt. So musste ich einen Verlust von mindestens dreissigtausend hinnehmen. Das ist für mich eine umso schmerzhaftere Tatsache, als ich mit diesem Betrag, wie ja auch gegenüber dem Verlag, wie Sie sich erinnern, ausgesprochen, gerechnet habe. Hier ist es doch eine Unaufmerksamkeit des Verlages, die mich im Augenblick, nach einer Reihe von Finanzpressionen, denen ich hier ausgesetzt war und bin, in eine bedrängende Lage gebracht hat. Unter anderm
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