Der Bund der silbernen Lanze: Historischer Kriminalroman (German Edition)
hatte, verdichtete sich zur Gewissheit und Laetitia fing an zu rennen. Dort, ein Mauervorsprung, nichts wie fort von der Gasse, durchzuckte sie ein Gedanke. Keuchend presste sie sich mit dem Rücken in eine Nische, die von den Wänden zweier schräg aneinander gebauter Häuser gebildet wurde, und löschte ihre Fackel. Durch ihr Gewand hindurch spürte sie die Kälte der regennassen Steine auf ihrer Haut. Für einen winzigen Moment lang hörte sie nur ihren eigenen Atem, dann vernahm Laetitia Schritte – weit ausholende, energische Schritte, die immer näher kamen. Ihr wurde flau im Magen. Sie drückte ihren Körper noch fester gegen das Gemäuer und hielt die Luft an. Ein winziger Tropfen Schweiß lief ihr den Arm hinab.
Wenn sie jetzt das Opfer von Dieben würde, wäre alles verloren, dachte sie. Das durfte auf gar keinen Fall geschehen. Sie wollte das Vertrauen, das die Äbtissin ihr entgegengebracht hatte, niemals enttäuschen. Ihre Mission musste einfach gelingen. Gewiss dürfte sie als Lohn dafür um ein Noviziat im Kloster bitten, damit sie Nonne und vielleicht einmal Bibliothekarin werden könnte. Bücher liebte sie mehr als alles andere auf dieser Welt. Obgleich sie die Enge der Klostermauern manchmal sehr bedrückte, zog sie das Leben hinter diesen dem Schicksal vor, das ihr sonst blühen würde. Allein die Vorstellung, zum Dienst an jemandem gezwungen zu sein, dessen Herrin sie eigentlich sein müsste, beschwor Wut in ihr. Genau das wartete außerhalb des Klosters auf sie: Nicht die glänzende Freiheit, sondern Unterwerfung gegenüber der intriganten Base ihrer Mutter, die über Besitz befahl, der ihr eigenes Geburtsrecht war. Nichts konnte sie gegen die Machenschaften tun, mit denen man sie ihres legitimen Anspruchs beraubt hatte. Laetitia presste für einen Moment die Augenlider zusammen und krampfte ihre Hände zu Fäusten, sodass ihre Handballen von den sich eingrabenden Fingernägeln schmerzten.
Als sie die Augen wieder öffnete, löste sich eine Gestalt aus dem Dunkel. Das Herz pochte Laetitia härter gegen die Rippen. Die Kapuze tief in die Stirn gezogen, ging der in einen Mantel gehüllte Mann so dicht an ihr vorbei, dass sie ihn fast berühren könnte. Mit der Zielstrebigkeit eines Pfeils hielt er auf ein Haus zu, das etwa einen Steinwurf entfernt von Laetitias Versteck lag. Der Fremde, der sich mit jeder Bewegung als energischer Willensmensch verriet, hatte dasselbe Ziel wie sie. Nicht irgendein Haus war es, wie sie erst jetzt bemerkte. Es trug kein Dach aus Stroh, sondern eines aus gebrannten Ziegeln. In diesem prächtigen Gebäude erkannte sie das von ihr Gesuchte. Ihre gestrigen Erkundigungen hatten ergeben, dass es sich bei Burkhards Haus um das stattlichste in Trier handelte.
Im milchigen Licht des Mondes, der mittlerweile den Kampf gegen die finsteren Wolkenungetüme aufgenommen hatte, schimmerten grünliche Fenster. Aus je acht kleinen Glasscheiben bestehend, fügten sie sich kunstvoll in einen Rahmen aus dunklem Holz. Noch nie hatte Laetitia an einem Wohnhaus derart Wertvolles wie Fenster aus Glas gesehen – ein Material, das gemeinhin ausschließlich in Sakralbauten verwandt wurde. Man brauchte keine prophetischen Fähigkeiten, um zu erkennen, dass hier Wohlstand herrschte. Desto geringer würden ihre eigenen Chancen ausfallen, Burkhard davon zu überzeugen, ihr die Briefe zu verkaufen. Mit weiteren Reichtümern würde man einen vermögenden Mann nicht locken können. Andererseits, sagte sich Laetitia, konnte wohl kaum ein Mensch dem Zauber widerstehen, der vom Funkeln der Smaragde ausging.
Im blassen Mondlicht hielt der Fremde mit dem Kapuzenmantel inne, blickte verstohlen über beide Schultern. Offenbar war ihm daran gelegen, nicht beobachtet zu werden. Wenn sie doch sein Gesicht sehen könnte! Aber die Kapuze warf einen Schatten, der es Laetitia unmöglich machte. Auf ein dumpfes Anklopfen hin öffnete das spärlich erleuchtete Haus seine Tür und nahm den Fremden auf. Im nächsten Moment lag die Gasse wieder verlassen da. Was sollte sie tun? Lieber abwarten oder ebenfalls um Einlass bitten? Noch bevor sie eine Entscheidung treffen konnte, zerrissen plötzlich Geräusche aus dem Hause Burkhards die Stille der Nacht. Zunächst ertönte eine scheltende Stimme, danach folgte dumpfes Gepolter. Wenn sie bloß wüsste, was da drinnen vor sich ging! Obwohl die Neugier in Laetitia brannte, fühlte sich ihr Körper an wie gelähmt, sodass sie keinen Wimpernschlag tun konnte. Erneut murrte
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