Der Bund der silbernen Lanze: Historischer Kriminalroman (German Edition)
Tüchlein abgedeckten Tonvasen darauf warteten, dass Federn sie auf geglättetes Pergament malten. Herrlich. Wie nichts anderes stand dieser Geruch für die Begierde nach geschriebener Weisheit und erinnerte sie an den Schreibsaal des Klosters Paraklet in Nogent-sur-Seine, in dem sie üblicherweise die meisten Stunden des Tages verbrachte. Welche Sehnsucht sie mit einem Mal nach der Geborgenheit empfand, die sie dort erfahren hatte – obschon sie neben der Äbtissin lediglich eine einzige wirkliche Freundin im Kloster hatte. Nach dem Erlebnis des heutigen Abends schien ihr unbegreiflich, dass sie sich noch vor wenigen Wochen sehnlichst gewünscht hatte, der Enge der Klostermauern für einige Zeit zu entfliehen. Wie herrlich würde es sich anfühlen, die Farben der Welt zu bestaunen und die Luft der Freiheit atmen zu dürfen – auch wenn es bloß für wenige kostbare Tage war – , hatte sie damals geglaubt. Tatsächlich war ihr beim Eintreffen im schönen Trier, das sich mit größter Sorgfalt für den Besuch von Papst Eugen rüstete, alles fremdartig und verlockend erschienen. Prächtige, am Saum mit blumigen Ornamenten bestickte Gewänder, in denen sich die wohlhabenden Frauen zeigten. Wagen, die beladen waren mit Körben, Tonkrügen und allerlei kunstvollen Dingen, die nicht nur nützlich, sondern zudem zur Zierde gedacht waren. Flötenmelodien, die wie ein Zauber klangen. Nicht zu vergessen der feine Duft nach Anis und Kleehonig, Gewürze, die eine Händlerin feilgeboten hatte.
Die spannenden Geschichten, die ihr andere Reisende in den Herbergen bei der gemeinsamen Mahlzeit erzählt hatten, hatten nicht zu viel versprochen – das war gleich klar gewesen. Trotz der üblen Zerstörung und all der Entbehrungen, welche die jahrelange, bittere Fehde um die wohlhabende Abtei St. Maximin über die Menschen hereingebracht hatte, war es Erzbischof Albero von Montreuil gelungen, Trier zu einer neuerlichen Blüte zu verhelfen. Was für ein erhebendes Gefühl sie durchdrungen hatte, als sie im strahlenden Sonnenlicht durch die Straßen dieser Stadt voller Wunder gelaufen war! Der elende Spuk des heutigen Abends aber machte Laetitias Freude an der neu entdeckten Welt mit einem Schlag zunichte. Als Zeugin eines Mordes würde sie alles darum geben, zu den geordneten Studierstunden im Kloster zurückzukehren, um das wohlige Rascheln der Pergamente, das Kratzen der Schreibfedern und vor allem die Worte der Äbtissin, ihrer klugen Lehrerin, zu hören.
Obwohl ihr die Beine noch immer vom Laufen zitterten, stand Laetitia auf und trat auf das Regal zu. Sie hoffte, mit dem Berühren einer vertrauten Sache – und wenig war ihr gleichermaßen vertraut wie Bücher – zur Ruhe zu kommen. Neugierig glitten ihre Augen über die Buchrücken und fanden ein in nachtblaues Leinen gebundenes Werk, das neben einem Buch über Wappenkunde stand. Ein Lächeln überflog ihr Gesicht, als sie beim Durchblättern der Seiten feststellte, dass sie voller ihr unbekannter Wörter waren. Faszinierend, demnach umfasste die Büchersammlung nicht allein lateinische, sondern auch griechische und – wenn sich ihre Einschätzung der Buchstaben als korrekt erwies – arabische Schriften. Noch immer fand Laetitia es verwunderlich, dass man in diesem unbedeutenden Stift eine derartige Vielzahl von Schätzen verwahrte. Allerdings waren ihr jetzt die Motive des Erzbischof Albero klar, der, wie man hörte, versessen darauf war, das Stift unter seinen Einfluss zu bringen. Wenn es seine Reichsunmittelbarkeit verlöre und seiner eigenen Führung unterstellt würde, erhielte Albero mit dieser Bibliothek Macht über ansehnliche Mittel. Höchst willkommen, nachdem die Kämpfe gegen den Grafen von Luxemburg während der Maximiner Fehde seine Schatztruhen heftig zur Ader gelassen hatten.
Kaum hatte Laetitia den grünen Einband eines weiteren Werks aufgeklappt, blitzten ihre Augen vor Erstaunen auf. Welch seltsame Zeichen waren dies? In tiefroter Tinte, schwarz umrahmt, prangten ihr Pentagramme, Drudenfüße und vielzackige Haken entgegen. Darüber breitete sich eine Zeichnung des Himmelsgewölbes aus, das sich in leuchtendem Blau über die Erdenscheibe dehnte und verschiedene Konstellationen des an der Himmelskuppel entlang wandernden silbrigen Mondes und der Sterne zeigte. Am Rande fanden sich eigentümliche Wirksprüche und Bannformeln notiert. Laetitias Miene erstarrte zur bleichen Maske, als sie begriff, dass sie eine Schrift der Magie in Händen hielt. Welch ein
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