Der Bund des Raben 01 - Dieb der Dämmerung
mehr viel Zeit.
In der Stadt war es ruhig. Sie konnte einige Gestalten sehen, die sich vor ihr in den Straßen bewegten, doch verglichen mit dem Betrieb in Xetesk zur Dämmerung – von Korina oder Gyernath ganz zu schweigen – war dies überhaupt nichts. Es sollte ihr leicht möglich sein, den Tunnel zu erreichen, doch irgendeine innere Stimme mahnte sie zur Vorsicht. So blieb sie, wo sie war, und beobachtete.
Drei Stunden später, als stockdunkle Nacht herrschte, wurde sie dafür belohnt, dass sie auf ihre Instinkte gehört hatte. Am Rande ihres Gesichtsfeldes sah sie eine Bewegung auf dem Platz, wo ihrer Ansicht nach der Tunneleingang sein musste. Dunkle Gestalten bewegten sich vor den Feuern auf der freien Fläche, und auch wenn sie aus dieser Entfernung nicht viel erkennen konnte, kam es ihr vor, als liefen Wellen über den ganzen Platz. Es lag sicher nur am schlechten Licht.
Die dunklen Gestalten teilten sich in vier Gruppen und verließen den Platz in Richtung der Torn-Wüste. Es waren Reiter, und einige von ihnen kamen so nahe an ihrem Versteck vorbei, dass Selyn sie erkennen konnte. Schamanen.
Somit konnte man als bewiesen betrachten, was bisher nur eine Mutmaßung gewesen war. Die Wytchlords kontrollieren die Wesmen unmittelbar über die Schamanen, und sie besaßen gewiss eine starke Magie. Als die Reiter die Stadt verlassen hatten, setzte sie sich in Bewegung.
Sie sprang an der Rückseite hinunter, drückte sich in die Schatten und stieß vorsichtig, aber rasch bis zum Hauptplatz
vor. Parve war in einem strikten Schachbrettmuster angelegt, was auch Ortsfremden die Orientierung sehr leichtmachte. Andererseits wurde es dadurch viel schwerer, sich zu verstecken. Selyn sah sich immer wieder nach Öffnungen, Seitengassen und tiefen Schatten um, während sie sich vorarbeitete, und prägte sich alles ein, was ihr bei einer etwaigen Flucht nützlich sein könnte.
Abseits der Hauptstraßen war die Stadt dunkel und verlassen, aber seltsam sicher. Es gab keine Patrouillen, deren Schritte auf dem neuen Pflaster hallten, keine zwielichtigen Gestalten, die umherhuschten und dem unvorsichtigen Reisenden oder dem verirrten Trinker auflauerten. Es war still, und es fehlte etwas … Atmosphäre. Dann fiel es ihr auf, und sie blieb stehen und atmete noch einmal tief ein.
Es war nicht die Stille, die sie hatte innehalten lassen. Da war noch etwas anderes. Eine Aura, die sich über die Stadt gelegt hatte wie eine Decke. Parve ruhte und schlief. Doch die Stadt wartete auf das Erwachen.
Selyn ging schnell weiter und eilte über eine breite, mit großen Steinen gepflasterte Straße, bis sie sich zwei Querstraßen vom Platz und der Pyramide entfernt wieder im Schatten verstecken konnte. Sie zog sich tief in einen Hauseingang zurück und wartete, bis ihr Atem langsamer ging und ihr Herzschlag sich beruhigt hatte. Man hatte sie entdeckt, und sie wurde verfolgt. Sie hatte nichts gehört oder gesehen, doch ihr Instinkt sagte ihr alles, was sie wissen musste.
Der Mann kam langsam und vorsichtig um die Ecke, seine Schritte waren kaum zu hören. Selyn wartete völlig reglos und überlegte, ob sie besser zuschlagen oder weglaufen sollte. Von ihrer Position aus, im Schatten verborgen, konnte sie sehen, wie er an der gegenüberliegenden Mauer entlanglief. Ihr Herz sank. Es war ein Schamane,
und wenn er seine Sinne beisammenhatte, dann konnte er sie aufspüren. Ihre Atemzüge wurden kürzer, als sie ihre Handgelenkbolzen mit den Lederriemen aktivierte, die über beide Handflächen liefen und mit Schlaufen an den Mittelfingern befestigt waren. Jetzt reichte es aus, die Hand rasch nach oben abzuknicken, um die Bolzen abzufeuern.
Der Schamane ging weiter an der Mauer entlang, strich mit der Hand leicht über die Ziegelsteine und verschwand aus ihrem Gesichtsfeld. Stille herrschte wieder in der Straße. Selyn wartete gespannt. Fünf Minuten. Zehn. Als ihr Gehör sich umgestellt hatte, nahm sie den Lärm der Menschen vor den Feuern auf dem Platz wahr, das ferne Trappeln von Hufen auf Stein, eine Tür, die geschlossen wurde. Fünfzehn Minuten.
Dann stand er vor ihr, und der Gestank seiner Pelze stach ihr in die Nase. Sein dunkles Gesicht und die kalten Augen waren dicht vor ihr. Er streckte den Arm aus.
»Glaubst du wirklich, ich könnte dich nicht riechen, Xeteskianerin?« Er sprach mit schwerem Akzent, die Worte passierten nur mühsam seine Kehle.
Selyn sagte nichts. Sie schlug mit der rechten Hand seinen Arm weg, knallte ihm
Weitere Kostenlose Bücher