Der Bund des Raben 01 - Dieb der Dämmerung
genau zu verstehen, was er da eigentlich tat.
Der Hausgeist war geschwächt. Die Schmerzen trieben ihm die Tränen in die Augen, und er hielt sich mühsam in der Luft, während das Feuer seinen Schwanz und sein Bein zerfraß. Sein Meister kam, doch er konnte die Richtung nicht feststellen, und die dunkle Wolke, die ihm das Bewusstsein zu stehlen drohte, trieb jeden klaren Gedanken aus seinem Kopf. Er kreiste weiter und bemerkte irgendwie, dass ein Magier unter ihm einen weiteren Spruch vorbereitete. Jetzt weinte er, denn er wusste, dass der Tod nahe war.
»Meister«, keuchte er. »Komm her und räche mich.«
Der Spruch traf ihn an der Kehle. Der Hausgeist verglühte und stürzte zur Erde.
Nichts hätte Denser darauf vorbereiten können. Es war, als würden ihm Nadeln durch die Augen getrieben, als zerquetsche man sein Gehirn mit einem Stein. Das letzte gequälte Flüstern seines Hausgeistes und sein Tod zerstörten seine Mana-Reserven und raubten ihm das Bewusstsein. Die Schattenschwingen verschwanden, und er stürzte vom Himmel.
Der Unbekannte sah es kommen, er sah, wie Denser den Kopf zurückriss und sich die Hände vor das Gesicht schlug, als wollte er sich den Schädel zerfetzen. Er sah die Flügel flattern, ein helles Blitzen vor dem dunklen Himmel, dann waren sie verschwunden. Er war bereits langsamer geworden und tauchte sofort hinunter, als Denser zu stürzen begann, schoss an ihm vorbei, legte sich in die Kurve, drehte um und fing ihn beim zweiten Versuch etwa fünfzehn Fuß über dem Boden ab.
Den bewusstlosen Dunklen Magier in den Armen tragend, schwebte er auf der Stelle und gewann langsam wieder an Höhe. Das Gesicht des Magiers war bleich in der Dämmerung und vor Schmerzen verzerrt. Der Unbekannte musste ihn beschützen. Er runzelte die Stirn, als er sich erinnerte, dass er einmal Hass empfunden hatte. Doch das schien lange her zu sein. Andere Erinnerungen drangen langsam durch den Morast seines kürzlich umgeformten Bewusstseins in den Vordergrund, doch er schob sie zur Seite und konzentrierte sich auf die Schattenschwingen.
Und er war zornig. Er empfand Zorn über diejenigen, die Denser verletzt hatten. Wut auf Xetesk, weil man ihn als Protektor eingefangen und ihm den Tod gestohlen hatte. Doch auch das Bedürfnis, Rache zu üben, musste beiseitegeschoben werden. Er musste jetzt den Raben wieder zusammenbringen. Er flog zum Triverne-See.
Selyn dachte über den besten Weg zur Pyramide nach. Die übliche professionelle Gelassenheit wurde von einem kalten Schauder durchbrochen, als sie die letzte halbe Meile abzuschätzen versuchte. Es war nicht so, dass sie sich Sorgen machte, ob sie es überhaupt lebend schaffen konnte. Nein, da war noch etwas anderes. Parve war getränkt mit einer Atmosphäre von Macht, Kraft, Furcht und Erwartung. Es war, als spürten selbst die Steine der wiederaufgebauten Stadt der Wytchlords, dass bald etwas geschehen musste.
Xetesk war schon seit Monaten insgeheim über die Bedrohung durch die Wesmen im Bilde. Die Flucht der Wytchlords hatte Xetesk veranlasst, offene und verdeckte Aktionen einzuleiten. Jetzt war sie hier, um die letzte Frage zu beantworten. Und die Frage lautete nicht mehr »ob«, sondern nur noch »wann«.
Das Gebäude, auf dem sie in der letzten Stunde ausgeruht hatte, war ringsum von Straßen umgeben. An der Längsseite standen Schornsteine. Sie kauerte hinter dem mittleren, verharrte reglos und bewegte vorsichtig den Kopf hin und her, um ihre Position zu bestimmen.
Hinter ihr verlor sich die Torn-Wüste in der nächtlichen Dunkelheit. Vom Lärm der Lager war hier in der Stadt nichts mehr zu hören. Rechts standen niedrige Gebäude, allesamt unbeleuchtet, und etwa hundert Schritt dahinter waren Ruinen zu erkennen. Doch vor allem erregte das, was links vor ihr lag, ihr Interesse.
Eine Querstraße weiter führte eine der vier Hauptstraßen bis zum zentralen Platz von Parve und zur Pyramide, die ihn beherrschte. Die breite Straße verlief etwa eine halbe Meile weit geradeaus, bis sie in den Platz mündete. Wenn Selyns Informationen zutrafen, dann führte ein versiegelter, mit mächtigen Zaubern geschützter Tunnel in die
Pyramide. Ringsum präsentierten Skulpturen verschiedene Kriegsszenen. Doch es war lange her, dass ein Xeteskianer das letzte Mal die Ruinen von Parve betreten hatte, und die Götter allein mochten wissen, was sich inzwischen verändert hatte. Sie musste herausfinden, ob der Tunnel offen war. Wenn er es war, dann blieb nicht
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