Der Bund des Raben 01 - Dieb der Dämmerung
gewissermaßen die Ruhefunktion der Manifestation. Das Tier – dem Aussehen nach ein Wesen aus seinen Alpträumen – ständig aufrechtzuerhalten, würde zu viel Mana erfordern, verstehst du?«
»Irgendwie schon, aber trotzdem, dreihundert Jahre …«
»Ja, das ist eine enorme Leistung. Ich kann kaum glauben, dass selbst ein so mächtiger Magier wie Septern fähig sein sollte, eine intelligente Beschwörung zu schaffen, die länger als vierzig Jahre existieren kann. Wahrscheinlich hat die Erscheinung über die Risse genügend statisches Mana
bekommen, um sich zu halten.« Denser konzentrierte sich wieder auf das Pergament, und Hirad lief unterdessen ein paar Schritte in Richtung des Risses zurück. Alles war ruhig. Er runzelte die Stirn und lief noch ein Stück weiter.
»Ilkar?«, rief er. »Ilkar!« Nichts. Keine Antwort, aber auch die Dorfbewohner waren nirgends zu entdecken. Als er bis zum Rand des Dorfs ging, konnte er den Grund sehen. Sie waren etwa achtzig Schritt vor dem Dorf hingefallen, und ihre Knochen bildeten einen Teppich auf der Erde. Hirad lief es kalt über den Rücken. Wenn es dem Raben gelungen war, sie alle niederzumachen, wo waren dann die Gefährten? Und wenn nicht, warum waren die Skelette dann gestürzt?
Er drehte sich rasch einmal um sich selbst, und ihm wurde erneut bewusst, wie einsam es hier war. Über ihm brodelten die dunklen Wolken, gejagt von einem schrecklichen Wind, den er nicht hören konnte. Drunten wetterleuchtete es, als wollten die Blitze das Land förmlich überschwemmen. Am Horizont erhoben sich wie alte, bedrohliche Wächter die anderen Plateaus. Die Umrisse hoben sich undeutlich von der Schwärze ab, und ihre Gegenwart nahm ihm den Mut. Wo war der Rabe? Er betete, dass sie durch den Riss zurückgekehrt waren. Die Alternativen waren zu grauenhaft, um weiter darüber nachzudenken.
»Denser?« Im Laufschritt kehrte er zu der Stelle zurück, wo er den Dunklen Magier lesend zurückgelassen hatte, doch der war nicht mehr da. Panik ließ seinen Atem stocken, bis er den Xeteskianer entdeckte, der sich in die andere Richtung entfernte. Er war zum Riss am anderen Ende der Plattform unterwegs.
»Denser!« Der Magier drehte sich um. Hirad konnte die gemächlich qualmende Pfeife sehen. Die Katze saß im Mantel und steckte aufmerksam den Kopf heraus, und Denser
kraulte ihren Kopf. Vom Pergament war nichts zu sehen. »Hast du es gelesen?«
Denser nickte.
»Und?«, rief Hirad, ohne seinen Schritt zu verlangsamen.
»Ich konnte nicht alles entziffern. Ilkar muss es auch noch versuchen.«
Als er Denser fast erreicht hatte, fiel ihm auf, dass irgendetwas nicht stimmte. Densers Blick irrte ständig ab, und er sah sich hin und wieder nervös über die Schulter zum Riss um.
»Alles in Ordnung? Der Rabe ist verschwunden, die Skelette liegen am Boden. Bist du sicher, dass das Ding nicht deinen Kopf erwischt hat?«
Denser zog die Augenbrauen hoch. »Ich bin sicher, dass mir nichts passiert ist.« Er hielt inne. »Hirad, ist es schon einmal vorgekommen, dass du etwas ganz Bestimmtes einfach tun musstest? Du weißt schon, irgendetwas, das deine Neugierde so erregt hat, dass du nicht anders konntest?«
Hirad zuckte mit den Achseln. »Wahrscheinlich. Ich weiß es nicht. Was meinst du denn?«
Denser drehte sich um und ging weiter zum Riss. Einen Moment lang war Hirad verwirrt. Aber nur einen kleinen Moment lang.
»Du machst Witze.« Er folgte dem Magier.
»Ich muss es wissen. Das hier ist so eine Sache.« Denser ging schneller.
»Was ist nur in dich gefahren?« Hirad begann zu traben. »Du kannst das nicht machen, Denser. Du kannst es dir nicht erlauben. Wir müssen doch …« Er legte Denser eine Hand auf die Schulter. Die Katze hieb mit einer Tatze danach, verfehlte aber die rasch zurückgezogene Hand des Barbaren. Der Dunkle Magier wandte sich ihm zu, und sein Gesicht war entschlossen. Die Augen aber blickten in weite
Fernen, während er angestrengt über irgendetwas nachdachte.
»Fass uns nicht an, Hirad«, sagte er. »Und versuche nicht, uns aufzuhalten.« Er wandte sich ab, marschierte zum Riss und sprang hinein.
Ein paar Sekunden später war die Katze wieder da. Sie stürzte als höchst unelegantes Fellknäuel aus dem Riss, schlug auf dem Boden auf, rannte los, dass die Erde und der Kies nur so spritzten, und schien sich hinter Hirad verstecken zu wollen.
Der Barbar starrte die Katze an, deren Fell zerzaust und mit Staub gepudert war. Das Tier war aufgeregt und atmete
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