Der Bund des Raben 03 - Kind der Dunkelheit
wiegen.
»Wer war das, Lyanna?«
»Die alten Frauen. Die werden mich immer beschützen.« Sie hatte sich noch enger an ihre Mutter gekuschelt. »Jedenfalls wenn ich bei ihnen bin.«
Erienne lächelte und traf ihre Entscheidung.
»Schlaf jetzt wieder, Liebes.« Sie legte das kleine Mädchen wieder aufs Bett und streichelte ihr Haar. »Mami
muss im Arbeitszimmer noch einige Dinge erledigen, und dann machen wir vielleicht eine kleine Reise.«
»Gute Nacht, Mami.«
»Gute Nacht, Liebes.« An der Tür hörte Erienne, wie Lyanna noch etwas flüsterte. Sie drehte sich um, doch Lyanna hatte nicht mit ihr gesprochen. Mit geschlossenen Augen sank ihre Tochter in einen, so die Götter es wollten, hoffentlich ruhigen Schlaf, in dem sie nicht mehr von Albträumen geplagt wurde. Sie flüsterte noch einmal, und dieses Mal konnte Erienne die halb gesungenen Worte verstehen, und sie hörte, wie die Kleine kicherte, als sei sie gekitzelt worden.
»Wir kommen, wir kommen.«
Die bald darauf folgende nächtliche Flucht aus Dordover ließ Erienne auch lange danach noch schaudern. Die erste Zeit war von Angst und Furcht und von der ständigen Sorge geprägt gewesen, die Flucht könnte doch noch scheitern. Inzwischen war allerdings klar, dass sie nie wirklich in Gefahr geschwebt hatten, aufgegriffen zu werden. Acht Tage in einer Kutsche, die von einer schweigsamen Elfenfrau gelenkt wurde, waren den drei unangenehmen Tagen im Dornenwald vorausgegangen. Damals hatte sie es noch für einen schlechten Einfall gehalten, doch mit der Zeit hatte sie begriffen, dass die Elfen der Gilde kaum etwas dem Zufall überließen. Angeschlossen hatte sich eine letzte, eilige Kutschfahrt nach Südosten bis Arlen, wo sie an Bord eines Schiffs gehen und alle Sorgen vergessen konnten.
Das Schiff, die Meerulme , war ein Dreimastkutter, der vom Bugspriet bis zum Ruder fast hundert Fuß maß. Das schlanke und schmale Schiff war auf Geschwindigkeit ausgelegt, die Kabine unter Deck war eng, aber recht bequem. Die aus dreißig Elfen bestehende Besatzung hielt
es makellos sauber, und so war die Meerulme ein ansehnliches Schiff, das sich solide unter den Füßen anfühlte. Die dunkelbraunen, fleckigen Balken waren gegen das Salzwasser imprägniert, und die Masten waren kräftig und doch zierlich.
Erienne, die bisher kaum Erfahrungen mit Seereisen gemacht hatte, fühlte sich an Bord sofort wohl, und die energische, aber freundliche Behandlung durch die stark beschäftigte Mannschaft gab ihr Sicherheit. Wenn die Matrosen keinen Dienst hatten, freuten sie sich über Lyannas Gesellschaft, und das kleine Mädchen sah mit großen Augen zu, wie sie auf Deck ihre Späße machten, mit Orangen jonglierten, turnten, sangen und tanzten. Erienne war froh, zur Abwechslung einmal nicht im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit zu stehen.
So hatten sie sich ausgeruht und die frische Luft und die vielfältigen Gerüche des Schiffs und des Meeres aufgenommen, und endlich konnten sie auch sehen, dass ihre Helfer zu lächeln begannen, sobald sie Balaia hinter sich ließen. Ren’erei, ihre Kutscherin, redete jetzt sogar mit ihnen und hatte ihnen ihren Bruder Tryuun vorgestellt. Tryuun, dessen Haare ebenso kurz geschoren waren wie die seiner Schwester, hatte nur knapp genickt. Seine dunkelbraunen Augen hatten geblitzt, und Erienne war nicht entgangen, dass sein linkes Auge blutunterlaufen und die Pupille starr war. Auch die Augenhöhle war vernarbt. Sie nahm sich vor, Ren’erei danach zu fragen, bevor sie ihr Ziel erreichten.
Die Gelegenheit ergab sich eines Abends, als sie schon vier Tage unterwegs waren. Das Abendessen war vorbei, die Kochtöpfe waren wieder verstaut, und die sorgfältig gehüteten Kochfeuer des Schiffs glühten nur noch schwach. Die Segel über ihnen waren prall gefüllt, und der
Wind trieb Wolken vor die Sterne. Lyanna schlief schon in ihrer Koje. Erienne lehnte an der Reling und sah dem Wasser zu, das unter ihnen vorbeiströmte. Sie stellte sich vor, wie es sein mochte, direkt unter der Oberfläche zu schwimmen. Dann hörte sie, wie jemand neben sie trat. Ren’erei stand in einer ähnlichen Haltung wie sie selbst an der Reling.
»Hypnotisierend, nicht wahr?«, sagte sie.
»Wunderschön«, stimmte die Elfenfrau zu. Sie war tief gebräunt, nachdem sie den größten Teil ihres Lebens auf dem Südkontinent Calaius verbracht hatte. Sie war jung und hatte pechschwarzes, kurzes Haar, schräg sitzende, grüne Augen und Ohren, die wie spitze Blätter neben ihrem Kopf
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