Der Bund des Raben 03 - Kind der Dunkelheit
Sie spürte die Atmosphäre in der Burg der Schwarzen Schwingen, den Geruch der Angst im Zimmer ihrer Zwillingssöhne, die schrecklichen Qualen nach dem Verlust der Söhne, die sie immer noch liebte, und das höhnische Lächeln von Hauptmann Travers, dem Anführer der Hexenjäger. Wieder und wieder sah sie, wie das Blut aus den aufgeschlitzten Kehlen auf die Bettlaken, ihre Gesichter und die Wände spritzte. Ihre Jungs. Ihre wundervollen Jungen. Abgeschlachtet wegen eines Risikos, das überhaupt nicht von ihnen ausging. Abgeschlachtet von Männern, die Angst vor der Magie hatten, weil sie sie nicht verstehen konnten. Erienne empfand den Verlust, als wäre es erst gestern gewesen, genau wie jeden Tag.
Die Schwarzen Schwingen waren also trotz allem, was Erienne und der Rabe erreicht hatten, nicht vernichtet worden. Sie waren noch aktiv, und jetzt jagten sie ein unschuldiges kleines Mädchen. Lyanna.
»Nein, nein, nein«, flüsterte sie. »Nicht noch einmal.«
»Ich bin dumm, und es tut mir sehr Leid.« Ren’erei wischte eine Träne aus Eriennes Gesicht, während die Magierin sich an ihrem Arm festhielt. »Es war falsch, es dir zu sagen. Wir wissen, wie viel du wegen dieser Menschen verloren hast, und wir haben getrauert. Aber du musst es wissen, damit du verstehst, dass du bei uns sicher bist. Wo du bisher gelebt hast, warst du nicht sicher, nicht einmal innerhalb der Mauern deines Kollegs. Tryuun hat durch ihre Hände gelitten. Du hast sein Gesicht gesehen. Er ist den Folterungen entkommen, doch er musste einen Preis dafür zahlen. Eines Tages aber werden
wir den Schwarzen Schwingen den Garaus machen. Wir werden vollenden, was der Rabe begonnen hat.«
»Aber sie wurden doch vernichtet«, murmelte Erienne. Sie sah die Elfenfrau fassungslos an. »Wir haben ihre Burg zerstört.«
Ren’erei schüttelte den Kopf. »Nein. Einer ist aus der Burg entkommen, andere haben sich ihm angeschlossen, und nach dem Rückzug der Wesmen haben sie ihr Banner wieder gehisst. Er heißt Selik.«
»Selik ist tot«, sagte Erienne. Sie löste sich von Ren’erei und setzte sich auf eine Kiste, die auf Deck verzurrt war. Ihr wurde übel. »Ich habe ihn selbst getötet.« Ren’erei trat zu ihr.
»Sag das Tryuun«, erwiderte sie ernst. »Selik ist entstellt und fast nicht zu erkennen, aber was er will, ist völlig klar. Die linke Seite seines Gesichts ist kalt und tot, und das Auge irrt blicklos umher, für immer geblendet. Seine Haare wurden von den Flammen versengt, und er hat zahlreiche Narben von Verbrennungen, doch er ist immer noch ein starker Kämpfer. Er ist ein gefährlicher Gegner, der eine Menge über uns weiß. Mehr als jeder andere lebende Mensch.«
»Dann tötet ihn.« Eriennes Stimme spiegelte die Eiseskälte wider, die trotz der warmen Nacht von ihr Besitz ergriffen hatte. »Er kann doch nicht so schwer zu finden sein.«
»Wir müssen ihn finden, bevor er uns findet. Tryuun ist ihm vor zehn Wochen entkommen, seitdem haben wir nichts mehr von ihm gehört. Wir werden es aber versuchen, und ich verspreche dir, dass dieses Mal mehr von uns dabei sein werden.« Sie hockte sich vor Erienne hin, die ihrerseits der Elfenfrau tief in die meergrünen Augen sah. Das Lächeln war wieder da. »Hierher kann er uns
nicht folgen. Niemand kann hierher kommen. Ihr seid hier sicher, Erienne, du und Lyanna. Niemand kann euch auf Herendeneth etwas tun.«
Sie wusste, dass Ren’erei Recht hatte, doch der Schreck, der ihr nach dem Gespräch noch in allen Knochen saß, raubte ihr in der folgenden Nacht den Schlaf. Irrationale Ängste gingen in ihrem müden Kopf um und ließen sie immer wieder mit heftig pochendem Herzen auffahren, wenn sie kurz vor dem Einschlummern war.
Denser war noch in Balaia und wusste nichts von den Gefahren, die irgendwo im Land lauerten. Auch der gute Ilkar ahnte nichts. Beide hatten schon einmal unter den Schwarzen Schwingen leiden müssen. Erienne wurde vor Angst übel, da sie jetzt wusste, dass einige überlebt hatten und dass die Schrecken sich wiederholen würden. Vielleicht hatten die Schwarzen Schwingen sogar schon irgendwie die Besatzung an Bord unterwandert. Vielleicht mussten sie alle sterben, wenn sie in Herendeneth anlegten. In ihrer Fantasie waren die Schwarzen Schwingen überall, und jeder hatte einen Dolch in der Hand, um ihrem hilflosen Kind die Kehle durchzuschneiden …
Der Ornouth-Archipel schälte sich am folgenden Tag im Licht der untergehenden Sonne aus dem Dunst. Die Inselkette erstreckte
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