Der Bund des Raben 03 - Kind der Dunkelheit
Der Kapitän hatte noch nicht begonnen, sich nach den Verfolgern umzusehen. Vielleicht würde er es am dritten Tag tun, doch seine Neugierde würde auf jeden Fall Verdacht erregen.
Er wusste, dass sie verfolgt wurden. Er hatte großes Vertrauen zu Ren’erei. Sie war ganz sicher an Bord eines anderen Elfenschiffs, und er konnte nur beten, dass der Rabe bei ihr war. Die Schlacht im Hafen von Arlen hatte seinen Hoffnungen allerdings einen starken Dämpfer versetzt. Er musste die Gewissheit haben, dass er die Al-Drechar nicht hilflos den Feinden auslieferte, wenn er sich Herendeneth näherte. Falls ihnen ein anderes Schiff folgte, und falls es ihnen auch durch die gefährlichen Gewässer von Ornouth folgen konnte, dann hatten sie noch eine Chance.
Erienne war unterdessen ein kurzer Spaziergang an der frischen Luft auf dem Hauptdeck erlaubt worden. Er hatte einen Blick von ihr auffangen können, als sie von einem Magier, der sie bewachte, wieder unter Deck gescheucht wurde, und er hatte ihr, wie er hoffte, ein aufmunterndes Lächeln geschenkt. Doch sie sah aus wie ein Mensch, der jegliche Hoffnung aufgegeben hatte, und er hätte gewiss nicht viel sagen können, um ihr Mut zu machen.
»Kapitän?« Sein Rudergänger deutete zur Steuerbordreling. Drei Magier redeten mit Selik, unter ihnen auch Berian, der mehrmals nach hinten zum Ruderdeck deutete. Es war eine zornige Unterhaltung, und der Kapitän biss sich auf die Unterlippe.
»Geh wieder auf Kurs, Junge«, sagte er. Seine Lippen bewegten sich kaum. »Und bleib ruhig.«
Der Rudergänger nickte, wartete auf das nächste Wellental und nahm das Ruder ein wenig herum. Der Kapitän spürte die veränderte Last auf den Segeln, die so zurückhaltend gesetzt waren, wie er es gerade noch vertreten konnte. Der Ruck fuhr unter seinen Füßen durch das Holz. Die vier Männer verließen die Reling und kamen zum Steuerruder.
»Schau nach vorn«, flüsterte der Kapitän. Er hielt den Blick auf den Kompass gerichtet.
»In Ordnung, Käpt’n.«
Stiefel kamen die Leiter herauf und polterten über das Ruderdeck. Der Kapitän wurde zur Seite gestoßen und schaffte es sogar noch, einen Ausdruck empörter Überraschung auf sein Gesicht zu bringen, als Seliks Schwertspitze gegen seine Brust gedrückt wurde.
»Was haben wir jetzt schon wieder getan, Euren Tee zu sehr gesüßt?«, fragte er und schaute an dem Mann der Schwarzen Schwingen vorbei zu den Magiern, die sich am Kompass versammelt hatten.
Selik versetzte ihm mit der Rückhand eine Ohrfeige, die den Kapitän schwanken ließ.
»Ihr stellt meine Geduld auf eine harte Probe, Elf«, sagte Selik. »Berian?«
»Wir sind auf dem richtigen Kurs«, erwiderte der alte Magier.
»Aber er war nicht immer richtig, nicht wahr, Kapitän?« Die Schwertspitze drückte ein wenig fester gegen seine Brust, und dem Kapitän war nur zu bewusst, dass ein plötzlicher Ruck seinem Leben ein Ende setzen konnte.
»Es ist unter diesen Bedingungen unmöglich, den
Kurs exakt zu halten«, sagte er. »Wir tun, was wir können.«
Wieder eine Ohrfeige. »Lügner.« Seliks unversehrtes Auge funkelte wutentbrannt. »Ihr haltet Euch wohl für sehr klug, Elf, aber die besseren Leute gehören zu mir. Sie können unser Ziel über die Mana-Spuren erkennen, sie können unsere Position durch Licht, Wind und Magie bestimmen, und sie können es spüren, wenn ein Elf mit dem Leben seiner Mannschaft spielt, indem er absichtlich unsere Reise verzögert.«
Der Kapitän schwieg. Selik trat einen Schritt zurück.
»Wir wissen nicht genau, wie sehr uns dies aufgehalten hat. Wir vermuten aber, dass es uns eine Menge Zeit gekostet hat. Für alles, was etwas kostet, muss ein Preis bezahlt werden.« Selik nahm die Schwertspitze etwas höher, bis sie direkt vor dem Hals des Kapitäns lag.
»Ich könnte die Bezahlung von Euch einfordern, aber ich fürchte, Eure Mannschaft könnte mit Eurem Tod nicht einverstanden sein. Glücklicherweise gibt es aber genügend andere Möglichkeiten.«
Er drehte sich herum und bohrte dem Rudergänger blitzschnell das Schwert in den Hals. Der junge Elf zuckte, gurgelte und brach zusammen. Selik zog das Schwert zurück, das Blut strömte aus der schrecklichen Wunde auf den Boden.
Dem Kapitän wurde übel, aber stärker als seine Übelkeit war sein Zorn. Er wollte auf Selik losgehen, doch Seliks Schwertspitze, die wieder auf seinen Bauch zielte, hielt ihn auf.
»Damit seid Ihr dem Tode einen Schritt näher«, sagte er.
Selik lächelte nicht.
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