Der Bund des Raben 03 - Kind der Dunkelheit
beinahe. Auf der Meerulme hatte sie sich auf ihren bevorstehenden Tod eingestellt, doch sie hatte den Grund verabscheut, aus dem sie sterben sollte. Jetzt, da ihr Tod ebenso sicher war, blieb sie ruhig und hatte während der Nacht sogar beinahe etwas
wie Euphorie empfunden. Es gab einen Grund dafür. Das Eine würde ebenso überleben wie ihr Kind. Sie musste von Lyanna und allen, die sie liebte, Abschied nehmen, doch sie wusste, dass ihr Tod für ganz Balaia etwas Gutes bewirken würde. Vielleicht sogar eine neue Morgendämmerung in den Annalen der Magie.
In den verzweifelten letzten Tagen hatte es einen Moment gegeben, einen Moment der Verzweiflung, den weder sie noch Denser verleugnen konnten, in dem sie Lyannas Tod als die bessere Lösung gegenüber ihrer unausweichlichen Trennung betrachtet hatten. Es war eine Möglichkeit, die Balaia rettete, und sie wären keine Menschen gewesen, wenn sie nicht auf diese Idee gekommen wären, so rasch sie letzten Endes auch wieder verworfen wurde. Doch als der Tag begann, schien diese Idee beinahe lächerlich.
Erienne drehte sich im schmalen Bett um und legte den Kopf auf Densers Brust. Sie fuhr ihm durchs Brusthaar, lauschte seinem gleichmäßigen Atem und dem ruhigen Herzschlag. Draußen heulte der Wind und trieb das Schiff weiter, ihrem Tod entgegen. Wenn alles nach Plan lief, dann sollte sie in etwa zwei Tagen tot sein. Ein eigenartiger Gedanke, aber einer, mit dem sie sich abfinden konnte. Und außerdem war noch eine Menge zu tun, ehe sie Balaia zumuten musste, nicht mehr unter den Lebenden zu weilen.
Sie lächelte und rieb ihren Kopf an Densers Haut. Einer ihrer Erfolge wanderte wieder auf dem Schiff herum. Er humpelte, und das würde sich nicht mehr ändern, aber der Unbekannte Krieger würde die Kraft im linken Bein zurückgewinnen. Sie war nicht sicher, ob er noch wirkungsvoll das Zweihandschwert führen konnte, aber kämpfen konnte er, und früher oder später konnte er
auch wieder rennen. Vorerst konnte er allerdings nur im Stehen kämpfen. Sie hoffte, er war damit zufrieden.
Sie hatte das eigenartige Gefühl, es sei eine Art Schwebezustand erreicht. Ihre Rückkehr zum Raben hatte Darricks Stimmung sichtlich gehoben, der, wie sie gehört hatte, bislang die ganze Reise brütend verbracht hatte. Nur Thraun war immer noch ein Problem. Sie war erschrocken, als sie ihn sah und erkannte, in welchem Zustand sich sein Körper befand. Sie hatte es nicht ausgesprochen, doch sie fürchtete, er sei tot womöglich sogar besser dran als in diesem Zustand.
Genug davon.
Sie drehte den Kopf nach oben und sah nichts als Bart. Sie langte hoch und kratzte sein Kinn. Denser klatschte träge mit der Hand nach ihr und schnaufte, als wollte er eine Fliege vertreiben. Sie stupste seine Wange. Er wachte immer noch nicht auf. Es kam doch nicht in Frage, dass sie allein wach lag, während das Schiff auf diese Weise stampfte und rollte. Sie schob die Hand unter die Decke und packte seinen Penis. Er grunzte. Sie massierte ihn leicht. Er murmelte etwas. Das war schon besser, aber er machte immer noch den Eindruck, im Tiefschlaf zu liegen. Die Hand, die herumkam und sich auf ihre Brust legte, verriet ihn schließlich.
»Guten Morgen«, sagte sie.
»Und ob«, sagte Denser.
Lyanna wanderte durch den Obstgarten. Unter ihren Schuhen knirschten Glassplitter. Sie war unglücklich. Die alten Frauen redeten kaum noch mit ihr, seit sie wieder aufgewacht war. Und Mami war noch nicht zurück, obwohl sie ihre Nähe hatte fühlen können, als sie noch an dem dunklen Ort war.
Die Kobolde hatten mit ihr gesprochen, deshalb war sie in den Garten gegangen, um sie zu besuchen. Um wieder mit ihnen zu spielen. Sie tanzten jedoch nicht in den Bäumen, wie sie es schon einmal getan hatten. Und die Bäume standen auch nicht mehr gerade wie beim letzten Mal. Einige waren zerbrochen, und die Kobolde lagen auf dem Boden. Die meisten lagen in der Ecke des Obstgartens auf einem Haufen. Wie Blätter im Herbst.
Lyanna bückte sich und fuhr mit den Händen durch die aufgetürmten Blätter, die einmal Kobolde gewesen waren. Da war kein Leben mehr, sie waren alle tot.
Sie stand auf und schluchzte leise. Alle ihre Freunde waren fort, nur die alten Frauen waren noch da. Aber die mochten sie wohl nicht besonders. Sie rannte wieder zur Tür, in der kein Glas mehr war, und fragte sich, was passiert war. Vielleicht konnte es ihr einer der Elfen sagen. Vielleicht war Ren da, wenn Mami schon nicht da war.
»Ren!«, rief
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