Der Bund des Raben 03 - Kind der Dunkelheit
»Oder?«
Er nickte. Es gab nichts zu erwidern. Nicht in diesem Moment.
Er hörte, wie über ihnen auf Deck Befehle gerufen wurden, dann trampelten eilige Schritte. Er hörte das Klatschen von erschlaffendem Segeltuch und spürte, wie das Schiff wendete. Es klopfte an die Tür, drängend und beharrlich.
»Entschuldigt, ihr beiden, aber das müsst ihr sehen. Wir treffen uns auf Deck.« Ilkars Stimme war etwas verlegen, aber dennoch energisch. Denser hörte, wie sich seine Schritte entfernten. Er lauschte noch einen Moment dem hektischen Treiben an Deck, ehe er sich wieder an seine Frau wandte.
»Nun?«
»Wir müssen gehen«, sagte Erienne. »Es nützt nichts, wenn wir jetzt in Selbstmitleid versinken.« Sie setzte sich auf und küsste ihn inbrünstig. Als sie sich von ihm löste, konnte sie sogar ein wenig lächeln. »Dazu haben wir später noch Zeit. Der Unbekannte müsste bald aufwachen, und das will ich nicht verpassen. Außerdem gibt es noch viel Arbeit.« Sie schob ihn weg, schwang die Beine aus dem schmalen Bett und klaubte ihre Kleider vom Boden auf.
»Ich liebe dich, Erienne«, sagte Denser.
Erienne schluchzte erstickt. »Vergiss das bloß nicht.«
Sie zogen sich rasch an und gingen nach einer letzten, langen Umarmung aufs Deck. Als sie die vordere Luke öffneten, wehte ihnen der starke Wind ins Gesicht. Das Schiff stampfte schon wieder heftig.
»Da geht es wieder los«, murmelte Denser.
Hand in Hand trat er mit Erienne ins verblassende Licht hinaus und sah sich nach Ilkar um. Der Elf stand zusammen mit einigen anderen Leuten an der Backbordreling. Hirad, Ren’erei, Darrick, ein Protektor und die halbe Mannschaft der Calaianische Sonne waren dort versammelt. Ilkar bemerkte sie und trat zur Seite, damit sie es selbst betrachten konnten.
Dort, wo bald die ersten Inseln des Ornouth-Archipels auftauchen mussten, stieg ein Lichtstrahl vom Meer zum Himmel empor. Es war eine mächtige Säule aus Licht, gelb und mit grünem Saum, durchsetzt von Orangetönen, Braun und einem abscheulichen Schwarz. Die Säule verschwand im Himmel, und wo sie die Wolken berührte, wirbelten diese im Kreis, verdichteten sich und flogen nach allen Seiten davon.
Sie hatten sich bereits am ganzen Horizont ausgebreitet, verdeckten die Sonne und zogen mit jedem Augenblick weiter übers Meer in Richtung Balaia. Zwischen den Wolken zuckten Blitze, und verwaschene Flecken zeigten, dass an einem Dutzend Stellen Wolkenbrüche niedergingen. Über dem Meer kam wieder Wind auf, der die See aufwühlte. Weiße Hauben wuchsen auf den Wellen. Allmählich wurde es gefährlich, die Dünung nahm zu und war jetzt schon zehn Fuß hoch. Das Schiff fuhr weiter geradeaus, doch Jevin hatte bereits alles bis auf das Toppsegel und das Vorsegel reffen
lassen. Bald musste er die Segelfläche noch weiter verkleinern.
»Bei den Göttern«, sagte Denser. »Sieh nur, was unsere Tochter uns allen antut.«
Erienne hatte ihm den Arm um die Hüften gelegt. Sie drückte ihn, und er schaute sie an und sah in ihren Augen den gleichen Schmerz, den er auch selbst empfand. Er fasste ihre zitternden Schultern und zog sie herum.
»Ich glaube, wir sollten etwas essen, bevor es zu stürmisch wird«, sagte er zu Ilkar. Der Elf nickte.
»Ich kümmere mich darum, macht euch deshalb keine Sorgen.«
Als sie dicht vor der vorderen Luke waren, wurde sie von innen geöffnet, und ein vertrautes Gesicht mit rasiertem Schädel schaute heraus. Der Unbekannte Krieger bemerkte sie und winkte sie zu sich. Er hatte sich ein Laken um die Hüften gewickelt.
»Wisst ihr, wo meine Sachen sind?«, fragte er.
»Unbekannter, es ist schön, dich zu sehen«, sagte Erienne.
»Ich freue mich auch, Erienne. Und es wird mir noch besser gehen, wenn ich darüber informiert bin, was inzwischen passiert ist – und wenn ich etwas gegessen habe. Ich bin am Verhungern.«
Der Sturm fegte in den frühen Morgenstunden durch den Choul. Es war noch eine Weile Zeit bis zur Dämmerung, und die Nacht war schwarz. Die Wolken bildeten eine dichte Decke, der Regen fiel unablässig. Sha-Kaan weckte die Brut. Ihre trüben Augen blickten ihn gereizt an.
»Hier können wir nur sterben«, sagte Sha-Kaan. »Hirad Coldheart hat Recht. Wir müssen ihnen helfen.«
»Es ist nicht unsere Art zu helfen. Man hilft vielmehr uns«, entgegnete Nos-Kaan. »Wir sind die Kaan.«
»Dies hier ist nicht Beshara, und hier herrschen wir nicht«, erwiderte Sha. »Deshalb werden wir meinem Drachenmann helfen. Wenigstens er
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