Der Bund des Raben 03 - Kind der Dunkelheit
und andere bekommen keine Übersetzung.«
»Leute wie du«, meinte sie.
»Ja. Deshalb habe ich sie gestohlen. Ich musste es einfach wissen.« Er schnitt eine Grimasse und schluckte, und sie legte eine Hand auf sein Gesicht und versuchte, seine Schmerzen zu lindern, die sie nicht verstand. »Jetzt kenne ich sie auch.«
Er gab ihr das zweite Blatt. Sie nahm es und las. Es war eine Übersetzung. Knapp und voller Lücken, aber dennoch sehr deutlich. Das Papier in ihrer Hand begann zu zittern. Sie hatte einen Kloß in der Kehle, und es drehte ihr den Magen um. Sie betrachtete die Prophezeiung, dann wieder die Übersetzung und überprüfte Wort für Wort, ob es einen Fehler gab.
»Nein, nein, nein!«, flüsterte sie verzweifelt. Fieberhaft las sie den Text und fuhr mit dem Finger Zeile für Zeile hinunter.
Es gab tatsächlich einen Fehler. Es war ein einfacher, aber sehr häufiger Fehler, wenn man nicht daran gewöhnt war, solche Texte zu übersetzen.
»Oh, Denser«, sagte sie. »Das ist falsch. Wer es auch war, er hat es falsch übersetzt.«
»Was … wie …«
Er nahm ihr das Pergament ab, auch wenn sie nicht verstand warum. Sie deutete auf ein bestimmtes Wort in der Überlieferung.
»Das Geschlecht ist falsch«, sagte sie und holte noch einmal tief Luft, ehe die Tränen zu fließen begannen. »Das da bedeutet nicht ›Vater‹. Es bedeutet ›Mutter‹.«
32
Einen kurzen Tag lang, als sie sich der dordovanischen Flotte näherten, die von Westen kam, hofften Denser und Erienne, es müsse nicht mit dem Tod von einem von ihnen enden. Die Wolken verflüchtigten sich weiter, die Sonne strahlte aus einem nur noch locker bewölkten Himmel warm herunter, und der Wind war gerade so stark, wie Jevin es in diesem Teil des Südmeeres erwartet hätte.
Sie hatten lange zusammen geweint, sie hatten die Tür ihrer Kabine verschlossen, nichts zu sich genommen und sich getröstet. Einmal, als sie zu sich kamen und es ertragen konnten, eine Weile nicht eng umschlungen zu liegen, hatte Erienne noch einmal die Blätter der Prophezeiung durchgesehen, die Denser mitgebracht hatte, um einen Anhaltspunkt zu finden, dass ihre Deutung vielleicht doch falsch wäre. Sie fand jedoch nichts, und Tinjata hatte offenbar genau gewusst, wovon er gesprochen hatte.
Auch am frühen Abend des sechsten Tages lagen Denser und Erienne beisammen, er hatte sie in den Arm genommen und streichelte ihren rechten Arm mit den Fingerspitzen.
Sie hatten sich unter Tränen zärtlich geliebt, sinnlich und leise, sie erfreuten sich aneinander und wussten um die Leidenschaft des anderen, auch wenn oft nicht mehr als ein Seufzen oder ein leises Stöhnen zu hören war. Keine Worte waren nötig, und auch als sie danach die wohlige Wärme genossen, brauchten sie nicht zu sprechen. Die Sonne stand knapp über dem Horizont und schickte schräge Strahlen durchs Fenster.
Bald wurde es Zeit, mit dem Raben zu Abend zu essen und den prächtigen roten Sonnenuntergang zu betrachten, der die am dunkelnden Himmel stehenden Wolken von unten in Brand zu setzen schien. Im Moment lagen sie noch still beieinander, starrten die Decke an und genossen die Wärme ihrer Körper und das entspannte Schweigen. Denser atmete tief ein und nahm Eriennes Körpergeruch auf. Vielleicht. Vielleicht war ihr Opfer gar nicht nötig.
Eigentlich sollte er wegen der Dordovaner, die den Ornouth-Archipel vor ihnen erreichen würden, sehr beunruhigt sein, doch irgendwie wusste er, dass sie scheitern würden. Ihn beschäftigte vor allem die aufkeimende Hoffnung, dass Lyannas Nacht vorbei war. Wenn sich das Wetter hielt, wenn in Balaia und im Südmeer wieder Ruhe einkehrte, dann konnte dies nur eines bedeuten. Lyanna hatte die Kontrolle gewonnen, die für sie und für Balaia lebenswichtig war. Und wenn dies zutraf, dann musste Erienne nicht sterben.
Ein Schatten glitt vor der Sonne vorbei. Denser verrenkte den Hals und sah hinaus. Der Schatten wurde dunkler. Er runzelte die Stirn.
»Der Sonnenuntergang kommt früh heute«, sagte er. Er stemmte sich auf einem Ellenbogen hoch und schaute auf Erienne hinunter.
»Nein, das ist nicht der Sonnenuntergang«, flüsterte sie. Die Tränen standen ihr in den Augen. »Es fängt wieder an.«
»Nein, meine Liebe«, sagte er, doch er wusste, dass es die Wahrheit war.
Die Temperatur sank, das Schiff bewegte sich auf einmal zur Seite, die Dünung wurde stärker. Ein Sturm zog auf.
»Wir haben doch gewusst, dass es nicht von Dauer sein konnte«, sagte sie.
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