Der Bund des Raben 03 - Kind der Dunkelheit
bisher war allerdings nichts geschehen. Inzwischen ließ sie jedes Knacken eines Zweiges unter ihren Füßen und jedes Knarren eines Baumes im Wind zusammenzucken. Sie lauschte, ob sie Vögel singen hörte, und benutzte ihre Lieder, um Lyannas Stimmung zu heben. Wenn die Vögel singen, so hatte sie gelogen, dann droht keine Gefahr.
Erienne hatte dazu gelächelt, obgleich sie wusste, dass Lyanna alles andere als überzeugt war. Wie auch immer, das kleine Mädchen war bald müde geworden, und so hatten sie am Spätnachmittag gerastet. Erienne hatte sich an einen mit Moos bewachsenen Baum gelehnt, und Lyanna war eingeschlummert. Das arme Kind. Erst fünf Jahre alt, und schon musste es um sein Leben rennen, auch wenn es nichts davon wissen konnte.
Erienne streichelte Lyannas langes schwarzes Haar und zog unter ihrem Gesicht vorsichtig die Puppe hervor, auf der sie unbequem mit eingedrückter Wange gelegen hatte. Sie sah sich im Wald um. Das Rauschen des Windes in den Bäumen und die düster nickenden Zweige über ihr hatten etwas Bedrohliches. Sie stellte sich vor, wie ein Rudel Wölfe sie umkreiste, und schüttelte den Kopf, um das Bild zu vertreiben. Doch sie wusste genau, dass sie verfolgt wurden, sie konnte es spüren. Und sie wurde das Gefühl nicht los, dass es nicht die Gilde war, die sie beobachtete.
Auf einmal schlug ihr Herz wie wild in der Brust, und sie geriet in Panik. Schatten tanzten vor ihr und nahmen am Rande ihres Gesichtsfeldes menschliche Gestalten an, blieben aber immer gerade eben außer Sicht. Ihr Mund wurde trocken. Was, bei allen Namen der Götter, wollten sie denn nur von ihr? Eine Frau und ein kleines Mädchen, verfolgt von einer Macht, die viel zu groß war, als dass man gegen sie hätte ankämpfen können. Und sie hatte ihr Leben in die Hand von Fremden gelegt, die sie jetzt gewiss im Stich gelassen hatten.
Erienne schauderte, obwohl es ein warmer Nachmittag war. Die kleine Bewegung weckte Lyanna. Das Mädchen schaute zur Mutter auf und suchte in deren Augen einen Trost, den sie nicht finden konnte.
»Mami, warum beobachten sie uns immer nur? Warum helfen sie uns nicht?«
Erienne schwieg, bis Lyanna die Frage wiederholte. »Mögen sie uns denn nicht?«, bohrte sie. Erienne kicherte und zauste Lyannas Haar.
»Wie könnte irgendjemand dich nicht mögen? Natürlich mögen sie uns, meine Liebe. Ich glaube, sie müssen sich vielleicht von uns fern halten, damit uns nichts Böses zustoßen kann.«
»Wann sind wir da, Mami?«
»Es dauert nicht mehr lange, mein Liebes. Nicht mehr lange. Dann kannst du ruhig schlafen. Wir haben schon ein großes Stück geschafft.« Ihren Worten fehlte es an Überzeugungskraft, und der Wind, der durch die Zweige strich, erzählte flüsternd vom Tod.
Lyanna sah sie ernst an, und ihr Kinn bebte ein wenig.
»Es gefällt mir hier nicht, Mami.«
Wieder schauderte Erienne. »Mir auch nicht, Liebes. Sollen wir eine bessere Stelle suchen?«
Lyanna nickte. »Du passt doch auf, dass mich die bösen Leute nicht kriegen, ja?«
»Aber natürlich, meine Kleine.«
Sie half Lyanna auf und schulterte den Rucksack, und dann gingen sie weiter nach Süden, wie man es ihr gesagt hatte. Unwillkürlich machte sie schnellere Schritte, um den Phantomen zu entkommen, deren Nähe sie spürte. Erienne versuchte sich zu erinnern, wie der Unbekannte Krieger oder Thraun die Verfolger abgeschüttelt hätten. Sie hätten ihre Spuren verwischt, sich vorsichtig bewegt und falsche Fährten gelegt. Sie fragte sich sogar, ob sie Lyanna tragen konnte, während sie unter dem Tarnzauber lief, sodass sie beide unsichtbar wären. Es wäre sicherlich eine ermüdende, anstrengende Übung.
Sie lächelte grimmig. Es war ein neues Spiel für Lyanna, und vielleicht half es sogar, ihre Stimmung zu bessern. Ein Spiel, bei dem es um den höchsten Einsatz ging.
Sie bewegten sich durchaus gewandt durch den Wald, doch unter dem Blätterdach entging den Elfen nichts. Ren’erei war überrascht über ihre Geschicklichkeit und die Lautlosigkeit, mit der sie liefen, und tatsächlich hinterließen sie kaum eine Spur am Boden. Die Elfenfrau musste auch anerkennen, dass sie so klug waren, zu beiden Seiten von dem Weg abzuweichen, dem sie eigentlich folgen wollten, um etwaige Verfolger abzuschütteln.
Bei den meisten Verfolgern hätten sie Erfolg gehabt. Doch Ren’erei und Tryuun waren im Wald geboren und konnten jede noch so winzige Spur lesen, die ein Mensch im Wald hinterließ. Ein geknicktes Blatt im
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