Der Bund des Raben 03 - Kind der Dunkelheit
außerdem erschien das Gespenst einer Bedrohung durch ein anderes Kolleg an der Wand.
»Wie lange ist sie schon verschwunden?«, fragte Ranyl, ein alternder Meister, der haarlos und gebeugt, in magischer Hinsicht aber nach wie vor äußerst vital war.
»Mehr als sechzig Tage.« Einige Meister schnauften erschrocken.
»Und Ihr hofft immer noch, sie zu finden?«, sagte Dystran. Sein Amt hatte sein junges Gesicht vor der Zeit altern lassen, seine Augen blickten ernst, und sein schwarzes Haar war grau durchsetzt.
»Ja«, sagte Denser entschieden. »Es kann kaum ein Zweifel daran bestehen, wohin sie gegangen ist.«
Dystran kicherte. »In der Tat, aber nun betreten wir das Reich der Mythen und des blinden Glaubens. Wir haben keine Ahnung, wo Eure Magier des Einen leben, falls sie tatsächlich existieren sollten.«
»Ihr solltet mehr lesen«, gab Denser zurück. »Ilkar sagt, es gebe ernst zu nehmende Hinweise darauf, dass sie sich auf dem Kontinent Calaius oder in dessen Nähe befinden, und dies wird, wenngleich nur indirekt, durch die Spuren bestätigt, die wir in Dordover gefunden haben.«
»Was sollen wir nun Eurer Ansicht nach tun?« Dystran beäugte Denser über die zu einem Spitzdach zusammengelegten Finger hinweg. Denser hätte über diese affektierte Pose weiser Besonnenheit beinahe schallend gelacht. Dieser Herr vom Berge war eine Witzfigur. Seit seiner überraschenden Amtsübernahme vor mehr als fünf Jahren hatte er nichts als politische Instabilität produziert. Eine noch größere Überraschung war, dass er überhaupt noch lebte. Zweifellos war Ranyl für diese erstaunliche Lebenserwartung verantwortlich. Denser fragte sich, wie lange es noch dauern würde, bis der alte Mann seinen nächsten Schachzug machte.
»Xetesk muss mir Dordover vom Hals halten. Ihre Absichten sind klar, und wir dürfen nicht zulassen, dass sie Lyanna zurückholen oder sogar noch Schlimmeres tun.«
Dystrans Augen blitzten kalt und fanatisch. »Oh, wir halten Dordover zurück, gewiss. Wir können nicht zulassen, dass sie sich weiter gegen die natürliche Ordnung stellen. Und Ihr habt Eure Rolle genau erfasst. Ein Glück, dass wir die freiwillige Entlassung, auf die Euer Unbekannter so sehr drängt, noch nicht in Kraft gesetzt haben, nicht wahr?«
Denser schauderte. Die Protektoren würden wieder marschieren. Das würde dem Unbekannten nicht gefallen.
Selik ritt mit einer Leibwache von acht Schwarzen Schwingen. Auf der Reise von Dordover nach Arlen hielt er in den Ruinen von Denebre an. Er wollte seinen Männern zeigen, wofür sie kämpften. Nicht, dass sie jemals geschwankt hätten. Es konnte trotzdem nicht schaden, ihre Überzeugung zu stärken.
Doch was er sah, bewirkte noch mehr als dies. Es fügte ihrem Vorhaben eine ganz neue Dimension hinzu. Seliks Zorn wurde von neuem entfacht, und sein totes Auge begann wieder zu schmerzen. Die neun Männer ritten langsam um die früher so freundliche Stadt am See. Sie konnten nicht einmal bis zum ehemaligen Zentrum vordringen, weil die Abgründe ihnen den Weg versperrten.
Vielleicht war es auch gut so. Der Gestank des Todes war allgegenwärtig. Wenn man sich gegen den Wind näherte, war das Summen von unzähligen Fliegen eine nicht zu überhörende Warnung, und überall, wo man hinschaute, rannten Ratten herum. Bald würden Krankheiten über die Wasserläufe verbreitet und giftige Abwässer im Boden versickern. Selik wollte sich gar nicht erst vorstellen, in welchem Zustand sich die nicht bestatteten, verwesenden Toten befanden.
Er konnte sich dagegen gut vorstellen, wie die Bewohner der Stadt in Panik geraten waren. Als die Erde bebte und die Gebäude einstürzten, hatten die Menschen alles zurückgelassen, was ihnen lieb und teuer war – ihr Heim, ihren Besitz, ihre Angehörigen. Die Luft war erfüllt gewesen von den Schreien der entsetzten Menschen, der Verwundeten und der Sterbenden. Staub verklebte die Kehlen, die Splitter von Stein und Glas zerfetzten Gesichter und Hände, und überall rannten sie, die Menschen von Denebre, die zusehen mussten, wie unter ihren Füßen der Boden aufriss und sie auf einmal verschluckte oder ihre Körper in Stücke riss.
Wenn man die Ruinen sah, war es schwer, sich vorzustellen, dass hier vor kurzem noch eine blühende Stadt gestanden hatte. Nicht ein Gebäude, das unbeschädigt geblieben war. Auf der anderen Seite der Stadt lag die Burg in Trümmern. Selik konnte noch die Reste des Burgfrieds sehen, und einige Steinhaufen und
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