Der Bund des Raben 03 - Kind der Dunkelheit
aus dem Gesicht. »Jetzt bin ich bald bei dir, Genere, meine Liebe. Bald bin ich bei dir.«
Klar und warm und rein war die Luft, die Erienne tief einatmete, als sie mit Schattenschwingen langsam höher flog und nach und nach das außergewöhnliche Gebäude überblickte, das sich auf Herendeneths einsamem, flachem Gipfel ausbreitete.
Sie wollte sich vom frischen Wind umwehen lassen und ihre Verwirrung vertreiben, damit sie wieder klar denken
und herausfinden konnte, was im Argen lag. Doch der Anblick unter ihr veränderte alles und erfüllte, wie es schien, für eine Ewigkeit ihre Augen und ihr Bewusstsein.
Das Haus der Al-Drechar war weitläufig, unregelmäßig gebaut und wundervoll. Sie schwebte darüber und fand den Obstgarten, in dem Lyanna so gern spielte. Von dort aus flog sie weiter nach außen.
Direkt unter ihr und in Richtung der Anlegestelle sah sie etwas, das vermutlich direkt nach dem Bau der ursprüngliche, prunkvolle Eingang des Hauses gewesen war. Türmchen und großzügige Räume waren mit Schiefer gedeckt, auf dem wiederum eine sichtlich gut gedeihende grüne Kriechpflanze wuchs. Ein niedriger Seitenflügel aus Glas und Holz war offenbar erst später angebaut worden. Dort fand sie auch den langen, schmalen Zugang, durch den sie bei ihrer Ankunft, die jetzt schon so lange zurückzuliegen schien, hinter Ren’erei hergerannt war.
Links vom Obstgarten waren drei mit Schiefer gedeckte Seitenflügel zu sehen, die hinausragten wie die Beine eines riesigen Insekts. Sie waren nicht völlig gerade gebaut, sondern erweckten eher den Eindruck, sie seien um natürliche Gegebenheiten herum angelegt worden. Als sie näher heranflog, konnte sie sehen, dass es dort tatsächlich Wasserbecken mit sanfter Strömung und anmutige Wasserfälle gab, die nur ein Narr zerstört hätte.
Die rechte Seite wurde von einem einzigen massiven Gebäude eingenommen. Sie flog langsam darüber hinweg und konnte Innenhöfe und architektonische Verrücktheiten ausmachen, die zu einem mehrstöckigen Gebäude aus weißem Stein, grauem Schiefer und dunklem Holz gehörten. Dazwischen gab es Blumen in einer Masse, als hätten die Götter sie aus dem Himmel heruntergeworfen. Es war ein prächtiges Durcheinander von roten, gelben
blauen und purpurnen Farbtönen, hin und wieder sah man auch ein lebendiges, reines und strahlendes Smaragdgrün.
Doch die wirkliche Majestät zeigte sich hinter dem Obstgarten, und ihr gegenüber wirkte der Rest des Hauses geradezu winzig. Auf Terrassen, die sich über die ganze, nicht sehr steile Neigung des Hügels bis zum Gipfel erstreckten, waren unzählige Bögen, Statuen, Säulen und kleine Tempel mit Kuppeldächern, Grotten, Teiche, wunderschöne Steingärten und makellos gestutzte Bäume angelegt. Auf dem Gipfel stand eine dreißig Fuß hohe und an der Basis sechs Fuß breite Steinsäule. Sie war von Efeu überwuchert, und dort, wo man es sehen konnte, strahlte von verwitterten gemeißelten Inschriften eine tiefe, uralte Aura magischer Kraft aus.
Erienne flog tiefer hinunter und streckte die Flügel aus, um in einem langen, langsamen Gleitflug die außergewöhnlichen architektonischen und kulturellen Leistungen betrachten zu können. Gleichzeitig sah sie sich nach einem geeigneten Landeplatz um und dachte schon daran, dass sie in dieser Stille ein wenig umherlaufen könnte, um ein paar kostbare Momente für sich allein zu haben und wieder zu sich zu kommen. Doch als sie sich näherte, wurde die Luft merklich kälter, und sie zog sich wieder zurück. Sie hatte das Gefühl, ein Eindringling zu sein.
Sie flog nicht etwa über die hübschen Einfälle von Künstlern hinweg, sondern über Gräber. Dort ruhten die Al-Drechar, die von der Wiedervereinigung der Kollegien geträumt hatten. Ihre Träume hatten sich nicht erfüllt, und sie waren in der Angst gestorben, das Ende all dessen, woran sie glaubten, sei nahe.
Erienne hätte den Ort entweiht, wenn sie gelandet wäre. Zuerst einmal musste sie sich trotz ihrer zunehmenden
unguten Vorahnungen um ihre wichtigste Aufgabe kümmern. Sie flog wieder etwas höher und versuchte, sich innerlich wie äußerlich einen Überblick zu verschaffen.
Lyanna hatte sich, wie von Erienne befürchtet, gleich nach Beginn ihrer Ausbildung verändert. Verschwunden war das unbeschwerte kleine Mädchen, das Fantasielieder für seine Puppe sang. Lyanna war jetzt nachdenklich, fast introvertiert und still. Sie redete noch mit ihrer Mutter, doch Erienne konnte sehen, dass hinter
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