Der Bund des Raben 03 - Kind der Dunkelheit
ihren Augen ganz andere als nur die Gedanken eines Kindes umgingen. Es war, als nähme sie alles auf, was sie sah, fühlte und hörte, und wahrscheinlich galt das Gleiche auch für das Mana-Spektrum.
Erienne hatte einerseits Angst vor dem, was aus ihrer Tochter werden konnte, und war andererseits stolz, dass Lyanna die Zukunft des Einen Weges war; und sie war auch eifersüchtig auf die Wunder, die ihr Kind schauen mochte.
Es war ganz anders als die Zeit in Dordover, wo Lyannas Ausbildung auf einer Generationen langen Erfahrung mit der Entwicklung von Kindern beruht hatte, sodass ihre kindliche Unschuld erhalten blieb, während sie lernte, das Mana zu akzeptieren. Erienne bekam Schuldgefühle, als sie in der warmen Thermik über Herendeneth schwebte. Lyanna hatte in Dordover gelitten, und die Entscheidung, von dort fortzugehen, war richtig gewesen. Aber war es hier wirklich besser? Lyanna schrie immer noch in Träumen auf, sie erwachte immer noch weinend, weil sie Kopfschmerzen hatte. Allerdings gab es auch einen Trost. Hier hatte Lyanna wenigstens eine Chance zu überleben und Balaia eine Gabe zu schenken, die beinahe ausgerottet worden wäre.
Es gelang Erienne nicht, ihre Sorgen abzuschütteln. Sie hatte gesehen, wie die Al-Drechar den Unterrichtsraum verlassen hatten. Die alten Frauen hatten die Besorgnis, die in ihren Gesichtern zum Ausdruck kam, nicht verbergen können, und obwohl die Ausbildung erst vor sieben Tagen begonnen hatte, wurden sie mit jedem Tag hinfälliger und schwächer. Erienne hatte auch geflüsterte Unterhaltungen beobachtet, die abrupt beendet wurden, wenn man sie bemerkte.
Sie nahm sich vor, später mit Ephemere zu reden, und stieg etwas höher, weil sie herausfinden wollte, in welcher Höhe die Illusion begann. Als sie höchstens fünfzig Fuß über dem Boden schwebte, konnte sie das Gebäude nur noch verschwommen sehen. Wie von grauen Wolken wurden die Einzelheiten verdeckt. Mit jedem weiteren Schlag ihrer Schattenschwingen verschwand das Haus unter dem gewaltigen, komplizierten Spruch. Als sie etwas mehr als sechzig Fuß hoch war, konnte sie nur noch den Gipfel eines von Nebel umhüllten, lange erloschenen Vulkans sehen.
Die Illusion flackerte und stabilisierte sich wieder. Zuerst dachte sie, ihre Augen hätten ihr einen Streich gespielt, doch dann wiederholte sich das Flackern. Links von ihr wurde der Spruch durchlässig, und ein Gebäudeflügel war mehrere Herzschläge lang sichtbar. Das Licht fiel durch den falschen Fels hindurch.
Eriennes Herz begann zu rasen. Sie flog eilig zum Obstgarten hinunter. Sie hatte genügend schlecht unterhaltene statische Sprüche gesehen, um zu erkennen, dass diese Illusion zerfiel und früher oder später völlig zusammenbrechen würde.
Da stimmte etwas nicht. Die Kräfte der Al-Drechar konnten sich nicht so schnell so sehr erschöpft haben.
Eine sich auflösende Illusion war schlimmer als überhaupt keine, weil das Flackern des instabilen Mana im ganzen Spektrum zu sehen war. Für das geübte Auge wäre es wie ein Leuchtfeuer mitten in der Nacht. Es brauchte nichts weiter als einen Meister der Magie, der an der Südküste von Balaia und auf dem Meer nach ihnen suchte.
Und dann würde Dordover mit aller Macht hier einfallen. Über den Ausgang konnte kein Zweifel bestehen.
7
Zwei Tage, nachdem er Ilkar und den Unbekannten Krieger verlassen hatte, saß Denser wieder in seinen Gemächern. Ein Feuer wärmte das kleine Arbeitszimmer, das Knacken der Scheite wurde gelegentlich vom Sturm übertönt, der in Xetesk wütete. Blitze zuckten über den dunklen Himmel, der Donner rollte und krachte und ließ im ganzen Kolleg das Mauerwerk zittern. Der Regen prasselte gegen die Läden, als klopften tausend wütende Dämonen an.
Doch die beiden Magier, die im Arbeitszimmer saßen, gaben keinen Laut von sich. Denser saß am Schreibtisch, und die vielversprechende junge Überlieferungsforscherin Ciryn hatte auf einem Stuhl am Kamin Platz genommen. Sie gehörte zur Gruppe der relativ neuen Magier, die dazu ausgebildet wurden, ein Gefühl für gewisse Aspekte der anderen Überlieferungen, in diesem Fall für die dordovanische, zu entwickeln. Alle Texte und Fragmente der dordovanischen Überlieferung und deren Bedeutung, die Xetesk besaß, waren im Raum verteilt. Im Grunde war es nicht viel, aber hier und dort konnten
sie auf eine von Tinjatas Passagen, die Denser gestohlen hatte, ein wenig Licht werfen und verschiedene Zusammenhänge erraten. Es war leicht
Weitere Kostenlose Bücher