Der Bund des Raben 03 - Kind der Dunkelheit
sich seiner Fähigkeiten sicher und sorgte dafür, dass die Segel immer prall im Wind standen.
Erienne war wie jeden Morgen in der frühesten Dämmerung aufgestanden. Fasziniert beobachtete sie im Bug, mit dicken Wollhosen, Hemd und Mantel geschützt, wie das Licht am östlichen Horizont erwachte. An diesem Morgen konnte sie Balaia am Horizont erkennen. Es war ein klarer, heller Tag ohne Dunst. Der Anblick besserte ihre
Laune und vertrieb die Ungeduld, die Ren’erei zugleich komisch und nervtötend gefunden hatte.
»Bleib nur ruhig«, hatte sie gesagt. »Du kannst ja sowieso nichts tun. Der Wind und das Schiff unterliegen nicht deiner Kontrolle. Wenn du dich entspannst, werden die Tage viel schneller vergehen.«
Erienne lächelte und drehte sich halb zu der hübschen jungen Elfenfrau um, die neben dem Kapitän am Steuerruder stand. Ren’erei hatte versucht, Erienne einige Übungen zur Beruhigung des Geistes zu zeigen, die jenen sehr ähnlich waren, die man in den Kollegien einsetzte, wenn ein Magier sein Mana erschöpft hatte. Ren’erei bat sie, sich ihr angespanntes Bewusstsein als Muskel vorzustellen, der sich durch Müdigkeit verkrampft hatte. Dann sollte sie sich vorstellen, wie er sich langsam löste und streckte, und wie das kühlende Blut wieder durch ihn strömte.
Sie hätte es problemlos tun konnte, aber sie wollte nicht, und auf ihr lächelndes Eingeständnis hin hatte Ren’erei verzweifelt die Arme gehoben und sich getrollt.
Inzwischen wünschte Erienne sich freilich, sie hätte sich etwas mehr Mühe gegeben. Sie war müde, denn seit dem Aufbruch von Herendeneth hatte sie keine Nacht ruhig geschlafen. Lyannas Schreie, die von Furcht und Schmerzen kündeten, hallten immer noch jede Nacht in ihrem Kopf, und ihre eigenen Ängste schreckten sie ein Dutzend Mal aus dem Schlaf.
Sie würde es überleben. Vor ihr ragte schon die Küste auf, und die Fahrt flussaufwärts bis Arlen sollte schnell gehen, wenn der Kapitän die Gezeiten richtig nutzte. Erienne hatte in dieser Hinsicht keine Bedenken.
Ihre Gefühle waren ein einziges Durcheinander. Sie wollte unbedingt Denser sehen, fürchtete aber seine Reaktionen,
nachdem sie so lange keinen Kontakt gehabt hatten. Sie brauchte seine Stärke und seine Art zu denken, wollte aber nur ungern zugeben, dass sie das Gefühl hatte, versagt zu haben. Sie freute sich darauf, wieder mit dem Raben zusammen zu sein, obwohl sie wusste, dass auch die Sicherheit, die der Rabe ihr geben konnte, trügerisch wäre. Was konnten die Rabenkrieger schon tun? Darüber musste sie lächeln. Der Rabe hatte oft genug und gegen alle Wahrscheinlichkeit seine Ziele erreicht. Die Frage war lächerlich. Sie würden schon einen Weg finden.
Natürlich musste sie mit Problemen rechnen. Ilkar war sicherlich mit einer Rückkehr zum Einen Weg nicht einverstanden. Sie konnte gut verstehen, welche widerstreitenden Gedanken ihm durch den Kopf gingen. Vielleicht war er auch gar nicht dabei. Irgendwie nahm sie aber an, er werde sich diese Gelegenheit nicht entgehen lassen, und sei es nur, um sich zu vergewissern, dass seinem Kolleg nichts Übles widerfahren konnte. Und was Denser anging – nun ja, sein Kolleg verfolgte ganz eigene Interessen. Zweifellos würde man dort ungnädig reagieren, wenn er nicht vorbehaltlos für das Kolleg arbeitete. Aber zuerst einmal war er Vater und dann erst Xeteskianer, und er würde gegen sein eigenes Kolleg kämpfen, falls er glaubte, es bedrohe Lyannas Leben. In diesem Punkt, wie in so vielen anderen, zogen Erienne und er am gleichen Strang.
Egal, wie sie über das dachte, was sie in Balaia vorfinden würde, ihre stärksten Gefühle galten dem Kind, das sie hatte zurücklassen müssen. Die arme Lyanna. Das unschuldige Mädchen steckte mitten in einem Spiel, in dem es keine Regeln und keine klaren Fronten und keine Möglichkeit gab, einen eindeutigen Sieg zu erringen. Erienne sehnte sich nach dem kleinen Gesicht, nach dem entzückenden Lächeln, nach den wunderschönen Augen.
Und sie fürchtete, sie würde es nie wiedersehen, wenn diese Mission scheiterte und die Dordovaner etwas über Herendeneth erfuhren.
Der auffrischende Wind trieb den Bug der Meerulme in die nächste Welle, die Gischt flog hoch in die Luft und spritzte übers Vordeck. Erienne wischte sich den Wasserfilm aus dem Gesicht, drehte sich um und ging zum Ruderdeck. Nach sechs Tagen auf See hatte sie keine Probleme mehr, das Gleichgewicht zu halten.
Sie stieg die Leiter hoch und sah auf einmal
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