Der Bund des Raben 03 - Kind der Dunkelheit
sie das Mana als Teil ihres Wesens annahm, und verfolgen, wie sie die Kräfte langsam zu kontrollieren lernte.
Erst jetzt konnten die Al-Drechar herausfinden, ob sie Lyanna in der viel zu kurzen Lehrzeit genügend Wissen vermittelt hatten, damit das Kind überleben konnte.
Lyanna war offensichtlich klug und begabt, und für ihre Potenziale schien es weder Grenzen noch Vorbilder zu geben, doch sie hätte die Erweckung frühestens als Jugendliche erleben sollen. Nicht nur ihr geistiges Wohlbefinden, sondern auch ihre körperliche Verfassung musste beobachtet werden.
Die Al-Drechar taten, was sie konnten, auch wenn es in Wirklichkeit nicht viel war. Sie sorgten dafür, dass Lyanna genug Bewegung bekam und etwas aß, wenn sie erwachte, und sie schirmten sie gegen einen übermäßigen Zustrom der Mana-Energie ab, wenn sie im Dämmerschlaf lag. Doch zum größten Teil spielten sich die Kämpfe in ihrer noch nicht entwickelten Psyche ab, wo ihr niemand helfen konnte.
Die Wachphasen wurden immer kürzer, und Lyanna verbrachte immer mehr Zeit auf dem Bett liegend oder durch die Flure des Hauses wandernd, wobei sie meist nicht wahrnahm, was um sie herum vorging. Die Al-Drechar bewachten sie auf Schritt und Tritt.
Wieder übertönte ein schriller Schrei das Heulen des Windes. Cleress spürte einen Ruck in ihrem Kopf, als Avianas Zugriff auf Lyannas Bewusstsein nachließ.
»Beeilt euch bitte«, übermittelte Aviana erschöpft. »Sie zerstört mich.«
»Bin fast da«, sendete Ephemere zurück. »Ruhig, Ana.«
Aronaar streckte die freie Hand aus und drückte Lyannas Zimmertür auf. Ephemere trat als Erste ein, Cleress nahm den Arm von der Schulter des Elfen und folgte ihr. Der Helfer wartete draußen.
Lyanna saß mit baumelnden Beinen auf der Bettkante. Schweiß hatte sich in ihrem Haar gesammelt und lief ihr über das Gesicht und die fest geschlossenen Lider und tropfte von den Wangen und vom Kinn herunter. Ihr Mund
war geöffnet, und sie atmete keuchend, rief stöhnend oder wimmernd nach ihrer Mutter. Vor Schmerzen hatten sie die Stirn in Falten gelegt.
Neben dem Bett saß Aviana auf einem Stuhl. Ihr Gesicht war bleich im Zwielicht, der Kopf war auf die Brust gesunken. Sie hatte die Seiten der Sitzfläche gepackt und die Beine darunter geschoben. Sie zitterte, und ihr Blick irrte umher, während sie das Mana-Spektrum absuchte.
Sofort richteten auch Cleress und Ephemere den Blick auf das Spektrum und erkannten erst jetzt das volle Ausmaß der widerstreitenden, ungeheuren Kräfte, die sie schon unterwegs gespürt hatten.
Bebend und schimmernd, instabil, aber noch nicht zerstört, lag Avianas Abschirmung wie eine Haube über Lyannas Bewusstsein. Der dunkelbraune Schirm war mit smaragdgrüner Farbe durchsetzt, die von Aviana ausging. Darunter tobte Lyannas verzweifelter Kampf, während sie versuchte, den Mana-Strom in ihrem Kopf zu akzeptieren und zu kontrollieren. Angelockt vom Potenzial des Mädchens, stieß die Energie, als wäre sie ein Lebewesen, auf Lyanna herunter.
Jetzt konnten die alten Elfenfrauen auch deutlich sehen, was die Dordovaner angerichtet hatten. Das sanfte Braun, das ihnen Grund zur Hoffnung gab, weil es Lyannas Drechar-Fähigkeiten symbolisierte, wurde vom giftigen Orange des Kollegs von Dordover unterdrückt, und dort fand der Kampf statt.
Wenn Cleress tiefer hineinschaute, erkannte sie auch dunkelgrüne Streifen, hellgelbe Einschlüsse und dunkelblaue Elemente in der Strömung. Der größte Teil blieb ruhig, doch im Zentrum der spiralförmigen Struktur pulsierte das Orange, das die dordovanische Erweckung symbolisierte.
Wie ein lauerndes Tier, nein, wie eine Schlange, die jederzeit zuschnappen konnte, zog sich das ungezügelte dordovanische Mana zusammen und spannte sich, bevor es wieder expandierte und das fein modulierte Braun der Al-Drechar zerfetzte. Während es nach außen schoss, entstand ein heftiges Flackern, oder, noch schlimmer, es bildeten sich Fragmente halb vollendeter Sprüche.
Aviana passte die Abschirmung immer wieder an und blieb ständig in Bewegung, ließ das Flackern und die stärkeren Entladungen durchschlagen, oder sie kapselte sie ein, wenn es in ihren Kräften stand, damit sich die Kräfte weit genug von Lyanna entfernt unschädlich entladen konnten. Dabei wurde aber mit Sicherheit ihr eigenes Bewusstsein verletzt, anders war es gar nicht möglich.
Cleress’ Puls beschleunigte sich. Es war ein massiver Angriff, ohne Absicht und sicher ohne Bosheit, doch Aviana –
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