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Der Canyon

Der Canyon

Titel: Der Canyon Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Douglas - Preston
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ein Zellhaufen teilte.
    Das ging jetzt seit dreieinhalb Stunden so. Die Venus-Partikel hatten ein erstaunliches Wachstum an den Tag gelegt – sie feierten eine wahre Orgie der Zellteilung. Zunächst dachte Melodie, die Partikel hätten irgendwie eine krebsartige Wucherung ausgelöst, einen undifferenzierten Haufen maligner Zellen. Aber es dauerte nicht lange, bis ihr klar wurde, dass diese Zellen sich nicht wie Krebszellen teilten, oder auch nur wie normale Zellen in einer Kultur.
    Nein – diese Zellen differenzierten sich.
    Die Gruppe von Zellen nahm allmählich die Charakteristika von Blastozyten an, den Zellhäufchen, die sich aus einem befruchteten Embryo bilden. Während sich die Zellen weiter teilten, bemerkte Melodie einen dunklen Strich, der sich in der Mitte der Blastozyten entwickelte. Er sah genauso aus wie der so genannte »Primitive Streak«, der sich in allen Chordaten-Embryos entwickelte – und schließlich zu Wirbelsäule oder Rückgrat des neuen Lebewesens wurde.
    Lebewesen.
    Melodie, am Rand der Erschöpfung, hob den Kopf. Ihr war noch nicht klar, wozu sich dieses wachsende Ding entwickeln würde, zu einer Eidechse oder etwas anderem, und es war noch zu früh im ontologischen Prozess, um das abschätzen zu können.
    Sie erschauerte. Was zum Teufel tat sie da? Es wäre Wahnsinn, abzuwarten und es herauszufinden. Was sie gerade tat, war nicht nur leichtsinnig, sondern extrem gefährlich. Diese Partikel mussten unter Bedingungen der Biologischen Sicherheit, Stufe 4, untersucht werden, nicht in einem offenen Labor wie ihrem.
    Sie sah sich nach der Uhr um, konnte das Ziffernblatt jedoch kaum noch erkennen. Sie blinzelte, rieb sich die Augen und verdrehte sie nach links und rechts. Sie war so müde, dass sie schon beinahe halluzinierte.
    Melodie hatte keine Ahnung, worum es sich bei diesen Partikeln handelte, was sie bewirkten, wie sie funktionierten. Sie waren eine außerirdische Lebensform, die mit dem Chicxulub-Meteoriten auf die Erde gelangt war. Die Sache war zu groß für sie – viel zu groß.
    Melodie schob den Stuhl zurück, stand auf, schwankte leicht und musste sich mit zitternden Händen am Schreibtisch abstützen. Sie überlegte, was nun zu tun war. Sie sah sich um, und ihr Blick fiel auf eine Flasche achtzigprozentiger Salzsäure im Chemikalienschrank. Sie schloss den Schrank auf, nahm die Flasche heraus, brachte sie zur Abzugshaube, erbrach das Siegel der Flasche und goss ein wenig Säure in eine flache Glasschale. Unendlich vorsichtig entnahm sie den Objektträger aus dem Mikroskop, trug ihn zum Abzug und ließ ihn in die Salzsäure gleiten. Es schäumte ein wenig und zischte leise, als die Säure augenblicklich den grässlichen Zellhaufen zerstörte, bis nichts mehr davon übrig war.
    Sie atmete erleichtert auf. Das war der erste Schritt, den Organismus zu zerstören, der sich auf ihrem Objektträger entwickelt hatte. Jetzt musste sie noch die freien Venus-Partikel selbst zerstören.
    Sie fügte der Säure eine starke Base hinzu, neutralisierte sie damit und ließ am Grund der Schale eine Schicht Salz entstehen. Sie setzte einen Bunsenbrenner unter der Haube in Gang, stellte das Glasschälchen darauf und verkochte die Lösung. Nach wenigen Minuten war die gesamte Flüssigkeit verdampft und hatte nur eine Salzkruste hinterlassen. Nun drehte sie den Brenner so heiß wie nur möglich auf. Fünf Minuten vergingen, zehn, und die Salzkruste zog sich zusammen und glühte rot, als die Temperatur sich dem Schmelzpunkt von Glas näherte. Keine Form von Kohlenstoff, nicht einmal ein Fußballmolekül, konnte eine solche Hitze überleben. Fünf Minuten lang ließ sie die Glasschale auf dem Brenner liegen und kirschrot glühen, dann stellte sie das Gas ab und ließ die Schale abkühlen.
    Jetzt gab es noch eines zu tun: das Wichtigste überhaupt. Sie musste den Artikel fertigstellen und einarbeiten, was sie gerade entdeckt hatte. Sie verbrachte zehn Minuten damit, zwei letzte Absätze zu verfassen, in denen sie in der trockensten wissenschaftlichen Ausdrucksweise, zu der sie noch fähig war, ihre Beobachtungen schilderte. Sie speicherte ihren Text, las ihn ein letztes Mal durch und war zufrieden.
    Im Stillen schalt sie sich für ihren Mangel an Umsicht. Was auch immer das für Partikel waren, sie vermutete inzwischen, dass sie sehr gefährlich sein könnten. Man konnte nicht wissen, was sie bei einem lebenden Organismus, bei einem Menschen anrichten könnten. Ein Schauer lief ihr über den Rücken,

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