Der Cellist von Sarajevo
Mitbürger verloren, sondern auch die Erinnerung daran, wie das Leben war, bevor die Männer auf den Bergen auf einen schossen, während man die Straße überqueren wollte.
Vor zehn Jahren, als Strijela achtzehn war, hatte sie sich das Auto ihres Vaters geliehen und war aufs Land gefahren, um Freunde zu besuchen. Es war ein strahlend schöner Tag, und der Wagen kam ihr wie lebendig vor, als wären ihre durch ihn umgesetzten Bewegungen eine Art Bestimmung, als geschähe alles genau so, wie es sein sollte. Als sie um eine Kurve bog, kam im Radio eines ihrer Lieblingsstücke, und der Sonnenschein, der zwischen den Bäumen einfiel wie durch Spitzengardinen, erinnerte sie an ihre Großmutter, und Tränen liefen ihr über die Wangen. Nicht ihrer Großmutter wegen, die damals noch unter den Lebenden weilte, sondern weil sie eine unbändige Lebenslust empfand, eine Freude, die umso stärker war, als sie wusste, dass eines Tages alles zu Ende gehen würde. Es war überwältigend, und es erschreckte sie so, dass sie am Straßenrand anhielt. Hinterher kam sie sich ein bisschen töricht vor und sprach nie darüber.
Jetzt jedoch weiß sie, dass sie nicht töricht war. Ihr wird klar, dass sie ohne einen bestimmten Grund auf den Kern dessen gestoßen ist, was das menschliche Wesen ausmacht. Es ist eine seltene Gabe, zu begreifen, dass das Leben wunderbar ist und dass es nicht ewig währt.
Wenn Strijela also den Abzug durchdrückt und dem Leben eines der Soldaten in ihrem Visier ein Ende setzt, tut sie das nicht, weil sie ihn töten will – obwohl sie das auch nicht bestreiten kann -, sondern weil die Soldaten sie und fast alle anderen in der Stadt um diese Gabe gebracht haben. Die Tatsache, dass das Leben enden wird, ist so selbstverständlich geworden, dass sie jede Bedeutung verloren hat. Aber schlimmer noch ist für Strijela die Erkenntnis, dass das, was sie weiß, und das, was sie glaubt, nicht mehr viel miteinander zu tun haben. Denn obwohl sie weiß, dass ihre Tränen an diesem Tag nicht der lächerlichen Sentimentalität eines jungen Mädchens entsprangen, glaubt sie es nicht recht.
Die Soldaten, die Strijela beobachtet, haben guten Grund, sich sicher zu fühlen. Bei fast jedem anderen Schützen wären sie es auch. Sie sind einen knappen Kilometer entfernt, und das Gewehr, das sie und nahezu alle Verteidiger benutzen, hat eine zuverlässige Reichweite von achthundert Metern. Darüber hinaus ist die Chance, ein Ziel zu treffen, nur gering. Bei Strijela ist das nicht der Fall. Sie kann mit einer Kugel Sachen machen, die andere nicht fertigbringen.
Für die meisten Menschen kommt es bei Fernschüssen auf Beobachtungsgabe und mathematische Fähigkeiten an. Man ermittle Windgeschwindigkeit und -richtung sowie die Entfernung zum Ziel. Die geschätzten Maße fließen in Gleichungen ein, bei denen die Fluggeschwindigkeit der Kugel, der Zeitfaktor, die Vergrößerungsstärke des Zielfernrohrs berücksichtigt werden. Auch ein Ball wird nicht direkt auf ein Ziel geworfen, er wird in einem Bogen geworfen, der so berechnet ist, dass er sich mit dem Ziel schneidet. Strijela nimmt keine Einschätzungen vor, sie berechnet keine Formeln. Sie jagt die Kugel einfach dorthin, wo sie hin muss. Sie kann nicht verstehen, warum andere Scharfschützen damit Schwierigkeiten haben.
Von der Bergfestung Vraca aus, oberhalb des besetzten Wohngebiets Grbavica gelegen, meinen ihre Feinde die Stadt ungestraft beschießen zu können. Im Zweiten Weltkrieg war Vraca ein Ort, an dem die Nazis jene, die Widerstand leisteten, folterten und ermordeten. Die Namen der Toten sind in die Stufen gemeißelt, aber seinerzeit benutzten nur wenige Kämpfer ihren richtigen Namen. Sie nahmen einen neuen Namen an, einen Namen, der mehr über sie aussagte als jede von Trunkenbolden in einer Bar erzählte Geschichte, einen Namen, der eine Botschaft übermittelte, die sich trotz aller Versuche der Regierung nicht zu Propagandazwecken missbrauchen ließ. Es heißt, sie hätten diesen anderen Namen angenommen, damit ihre Angehörigen nicht in Gefahr gerieten, damit sie ein Doppelleben führen konnten. Doch Strijela glaubt, dass dieser andere Namen ihnen ermöglichte, Abstand zu halten zu dem, was sie tun mussten, und die Persönlichkeit, die kämpfte und tötete, eines Tages wieder abzulegen. Seit sie gelernt hat, jemanden zu hassen, weil er sie hasste, und ihn dann für das zu hassen, was er ihr antat, ist in ihr das Verlangen gewachsen, den Teil ihrer Persönlichkeit, der
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