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Der Chancellor

Titel: Der Chancellor Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jules Verne
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Kazallon, fragt sie mich, nicht wahr, wir werden Hungers sterben müssen? – Wie lange kann man wohl leben, ohne zu essen?
    – Weit länger, als man glauben sollte! Vielleicht lange, unbestimmbare Tage!
    – Kräftige Personen leiden ja wohl dabei am meisten?
    – Ja, aber sie unterliegen schneller, das gleicht sich aus.«
    Wie war ich nur im Stande, dem jungen Mädchen so zu antworten? Wie? Ich fand kein Wort des Trostes für sie? Ich habe ihr die gräßliche Wahrheit schonungslos in's Gesicht geschleudert! Ist denn in mir jedes menschliche Gefühl erloschen? André Letourneur und sein Vater, die mich hören konnten, sahen mich wiederholt erstaunt mit ihrengroßen, vom Hunger erweiterten Augen an. Sie schienen sich zu fragen, ob ich es war, der also sprach.
    Einige Minuten später, als wir ziemlich allein waren, sagte mir Miß Herbey mit leiser Stimme:
    »Mr. Kazallon, würden Sie mir wohl einen Dienst erweisen?
    – Gern, Miß, habe ich erregt geantwortet; bereit, für das junge Mädchen Alles zu thun.
    – Wenn ich vor Ihnen sterbe, fährt Miß Herbey fort, und das kann ja der Fall sein, trotzdem ich schwächlicher bin, – so versprechen Sie mir, meine Leiche in's Meer zu werfen.
    – Miß Herbey, ich that sehr unrecht ...
    – Nein, nein, fällt sie mir trübe lächelnd in's Wort, Sie thaten ganz recht daran, mir Alles zu sagen, nur versprechen Sie mir die Erfüllung meiner Bitte. Es ist wohl eine Schwäche von mir. Lebend fürchte ich Nichts ... aber todt ... versprechen Sie mir, mich in's Wasser zu werfen.«
    Ich habe es ihr versprochen. Miß Herbey reicht mir die Hand zum Danke, und ich fühle, wie ihre mageren Finger leise die meinigen drücken.
    Noch eine Nacht ist vorübergeschlichen. Zu Zeiten sind meine Qualen so arg, daß ich unwillkürlich aufschreie; dann mildern sie sich wohl auch wieder, und ich versinke in eine Art Stumpfsinn. Beim Wiedererwachen wundere ich mich, meine Leidensgefährten noch lebend zu finden.
    Derjenige von uns, der am wenigsten zu leiden scheint, ist der Steward Hobbart, von dem bis jetzt nur wenig die Rede gewesen ist. Es ist ein kleiner Mann von zweideutigem Aussehen, mit schmeichlerischen Blicken und einem ewigen Lächeln, »das abernur seine Lippen angeht«; seine Augen sind stets halb geschlossen, so als wollte er seine Gedanken verbergen, und seine ganze Erscheinung athmet Falschheit. Er ist ein Heuchler, ich schwöre darauf. Und wirklich, wenn ich sagte, daß ihm die Entbehrungen am wenigsten zuzusetzen schienen, so ist damit nicht etwa gesagt, daß er keine Klagen laut werden ließe. Im Gegentheil, er seufzt ohne Unterlaß, aber ich weiß nicht, warum mir sein Gewimmer nur affectirt vorkommt. Es wird sich das wohl zeigen. Ich werde diesen Menschen beobachten, denn ich habe einen Verdacht gegen ihn, über den ich mir gern klar würde.
    Heute, am 6. Januar, nimmt mich Mr. Letourneur bei Seite, führt mich nach dem Hintertheile des Flosses, und das mit dem Aussehen, als habe er mir eine »geheime Mittheilung« zu machen. Er wünscht weder gesehen noch gehört zu werden.
    Ich begebe mich mit ihm nach der hinteren Ecke des Backbord, und nachdem der Abend angebrochen, vermag uns Niemand mehr zu sehen.
    »Mein Herr, beginnt Mr. Letourneur mit leiser Stimme, André ist sehr schwach! Mein Sohn stirbt mir vor Hunger! Ich kann das nicht lange mit ansehen! Nein, ich kann es nicht!«
    Mr. Letourneur spricht in einem Tone, dem man den verhaltenen Zorn anmerkt, und sein Accent hat etwas Wildes an sich; doch begreife ich wohl, wie dieser Vater leiden mag!
    »Lieber Herr, sage ich und ergreife seine Hand, verzweifeln wir noch nicht. Wenn ein Schiff ...
    – Ich verlange von Ihnen keine billigen Trostesworte, unterbricht mich der arme Vater. Es wird hier kein Schiff vorbei kommen, das wissen Sie rechtgut. Nein, es handelt sich um etwas Anderes. Seit wann hat mein Sohn, haben Sie selbst und wir Alle nichts gegessen?«
    Diese Frage läßt mich einigermaßen erstaunen, und ich antworte:
    »Seit dem 2. Januar ist der Zwieback ausgegangen. Wir haben jetzt den 6., es sind demnach vier Tage, daß ...
    – Daß Sie nichts gegessen haben! Nun wohl, bei mir sind es schon acht!
    – Acht Tage!
    – Ja! Ich habe für meinen Sohn gespart!«
    Bei diesen Worten brechen ihm Thränen aus den Augen. Ich fasse Mr. Letourneur's Hand. Kaum bin ich im Stande zu reden. Ich sehe ihn bewundernd an ... acht Tage!
    »Herr! Mein Herr, sage ich endlich, was verlangen Sie von mir?
    – Halt! Nicht so laut! Es darf

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