Der Chancellor
Wenn man ihn hört, sollte man glauben, daß er schon Hungers sterbe, und wenn man ihn sieht, scheint er allein von den allgemeinen Qualen verschont zu sein. Besitzt dieser Heuchler noch einen geheimen Vorrath? Ich habe ihn schon überwacht, aber noch nichts entdecken können.
Die Hitze ist immer bedeutend und sogar unerträglich, wenn die Brise sie nicht mäßigt. Unser Wasservorrath ist gewiß unzureichend, aber der Hunger ertödtet in uns den Durst. Und wenn ichmir nun gar noch sage, daß die Entbehrung des Wassers uns noch mehr foltern wird, als die der festen Nahrung, so kann ich es kaum glauben, oder mir wenigstens nicht augenblicklich vergegenwärtigen. Doch steht diese Thatsache unzweifelhaft fest, und Gott wolle es verhüten, daß wir auch das noch auskosten sollen!
Zum Glück enthält die halb zerbrochene Wassertonne noch immer einige Pinten Wasser, und die andere ist ja noch unversehrt. Trotzdem sich unsere Anzahl vermindert hat, so hat der Kapitän dennoch, entgegen dem Widerspruche von manchen Seiten, die täglichen Rationen auf eine halbe Pinte herabgesetzt. Ich stimme ihm hierin vollständig bei.
Vom Branntwein haben wir nur noch eine Viertel-Gallone übrig, die auf dem Hintertheile des Flosses an sicherer Stelle untergebracht ist.
Heute, am 7., gegen ein halb acht Uhr Abends, hat wieder Einer von uns aufgehört zu leiden. Wir sind nur noch vierzehn! Der Lieutenant Walter hat sein Leben in meinen Armen ausgehaucht, und weder die Sorgfalt Miß Herbey's, noch die meinige hat ihm nützen können ... er hat überstanden!
Wenige Minuten vor seinem Tode hat der Lieutenant Miß Herbey und mir mit einer kaum noch zu verstehenden Stimme seinen Dank ausgesprochen.
»Mr. Kazallon, flüsterte er und ließ einen zerknitterten Brief aus seiner zitternden Hand gleiten, dieser Brief ... von meiner Mutter ..., ich habe keine Kräfte mehr ... der letzte, den ich erhielt ... sie schreibt mir: »Ich erwarte Dich, mein Kind, ich will Dich wiedersehen!« Nein, Mutter, Du wirst mich nicht mehr wiedersehen! Mr. ... diesen Brief ... legen sie ihn dahin, auf meine Lippen, da ...dahin, ihn küssend will ich sterben ... meine Mutter ... mein Gott! ...«
Ich habe den Brief aus Lieutenant Walter's schon erkalteter Hand genommen und ihn auf seine Lippen gelegt. Noch einen Augenblick schien sein Auge aufzuleuchten, und wir hörten ein schwaches Geräusch, wie von einem Kusse!
Er ist todt, der Lieutenant Walter! Gott sei seiner Seele gnädig!
XLI.
Am 8. Januar.
– Die ganze Nacht über bin ich neben dem todten Körper geblieben, und Miß Herbey hat wiederholt Gebete für sein Seelenheil verrichtet.
Bei Anbruch des Tages ist der Leichnam völlig erkaltet. Ich hatte Eile ... ja! Eile, ihn in's Meer zu werfen, und ersuchte Robert Kurtis, mir in diesem traurigen Geschäfte beizustehen. Nach Einhüllung in seine Kleidungsstücke werden wir ihn den Wellen übergeben, und ich hoffe, daß er bei seiner außerordentlichen Magerkeit sich nicht schwimmend erhalten wird.
Mit Tagesgrauen treffen wir, Robert Kurtis und ich, gewisse Vorsichtsmaßregeln, nicht gesehen zu werden, und entnehmen den Taschen des Lieutenants noch einige Gegenstände, welche dessen Mutter zugestellt werden sollen, wenn Einer von uns am Leben bleibt.
Eben als ich den Leichnam in die Kleidungsstücke bringen will, die ihm als Bahrtuch dienen sollen,kann ich eine Bewegung des Entsetzens nicht unterdrücken.
Der rechte Fuß fehlt, das Bein ist nur noch ein blutiger Stumpf!
Wer ist der Urheber dieser Schändung? Ich bin also doch wohl in der Nacht einmal der Ermüdung erlegen, und Jemand hat sich meinen Schlummer zu Nutzen gemacht, diesen Körper zu verstümmeln. Aber wer, wer hat das gethan?
Robert Kurtis sieht rings umher, und seine Augen sprühen Flammen. An Bord bemerkt man nichts Ungewöhnliches, nur einige Jammerlaute unterbrechen das Stillschweigen. Vielleicht belauert man uns! Eilen wir, die Ueberreste in's Meer zu bringen, um noch schrecklichere Auftritte zu vermeiden.
Nach einem kurzen Gebete des Kapitäns lassen wir den Leichnam in die Fluthen gleiten, in denen er sofort versinkt.
»Donnerwetter! Die Haifische werden gut gemästet!«
Wer sprach das? Ich drehe mich um. Es war der Neger Jynxtrop.
Der Bootsmann stand gleichfalls in meiner Nähe.
»Vermuthen Sie, sage ich zu ihm, daß jene Unglücklichen diesen Fuß ...
– Diesen Fuß ... ah, ja! erwidert mir der Hochbootsmann. Im Uebrigen war das ihr Recht.
– Was? Ihr Recht? rufe ich
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